Sonic Youth – Trilogy (Daydream Nation, 1988)

An dieser Stelle schreibe ich Gedanke zu Musik nieder. Mag es die Leserin ansprechen? Anstiften? Abschrecken? Es ist und bleibt rein subjektiv. Es sind Gedanken oder kleine Erzählungen. Keine Analysen der musikalischen Theorie, dazu fehlt mir das Wissen und vor allem die Lust, dieses Wissen zu erwerben.

1988 haben Sonic Youth ihr Doppelalbum „Daydream Nation“ veröffentlicht. Vielfach wird es als der Höhepunkt der Kunst der Band angesehen. Dazu kann eins stehen, wie eins will. Es ist Geschmackssache. Die Musik ist teilweise nicht mehr derart wild, wie auf den vorangegangenen Alben. Die Wucht eines Titels „Death Valley 69“ ist auch nicht so einfach zu reproduzieren. Außerdem, wozu? Sonic Youth sind in diesem Falle schon progressiv gewesen und haben selten Stücke geschrieben, die Kopien vorangeganer Stücke waren. Und so haben sie auf dem angesprochenen „Daydream Nation“ sich über die 10-Minuten-Grenze hinausgewagt. Ja, mit einem kleinen Trick: Es wurden drei Stücke zusammengefügt zu einer „Trilogie“, worauf sich auch der Titel des ganzen dann bezieht: „Trilogy“. Hihi.

Die einzelnen Stücke sind „The Wonder“, „Hyperstation“ und „Eliminator Jr.“. 14 Minuten Achterbahn.

Wenn nach dem Fingersliden über die elektrifizierten Gitarrensaiten die Bassdrum einsetzt, schießt das Adrenalin durch den Körper der Hörerin. Steve Shelley am Schlagzeug ist überhaupt der heimliche Held der Band. Er macht keine Scherze, er ist der Motor, der die Schrauben der Musik löst oder fest zurrt. Und in „The Wonder“ ist die Musik völlig loose, er muß erden. Von einem Looping zur nächsten 90° Abfahrt geht es in wenigen Sekunden, musikalischen Schnitten. Gehen Sie raus! Kopfhörer on oder in-ear. Lautstärke so hoch, daß Mitmenschen Sie entgeistert angaffen. Sie werden den Riss in der Realität erfahren, den die Musik Ihrem Leben antun wird. Als sei die Welt in einem Fotostudio von einem Positiv ins Negativ rückverwandelt. Alles ist so fremd, Synapsen sind falsch verdrahtet. Daydreaming Days in a Daydream Nation, heißt es dann in „Hyperstation“ und das ist eine nette Umschreibung für diese Verzerrung. Immer wieder stechen jetzt die Gitarren zu, wird an einem Rad gedreht, um Ihre Nerven weiter zu reizen. Sie wissen, wie Uma Thurman in Pulp Fiction nach dieser Spritze nach Luft schnappt? Na, wenn Sie dieses Bild vor sich sehen, sitzen Sie in der Bahn, die gerade die „Hyperstation“ verläßt. Und die Gitarrenschreie sind Medusenköpfen gleich. Wenn es nicht gerade gen Ende des zweiten Drittelstücks zu einem leichten Ausatmen kommt und selbst Steve Shelley nur noch den Shaker bedient. Kim Gordon läßt den Bass im Hintergrund dröhnen. Vielleicht schlägt sie ihn nur von hinten, um die Saiten noch in der Vibration zu halten. Und dann ist da die Minute 11:27.

Gerade war es noch ruhig, war ein Gleichmaß nach all diesem Wüten eingetreten. Jetzt: Die Gitarren, Kims Aufstöhnen, das ganze Drumkit und wieder dieser dröhnende Bass. Diese halbe Minute ist vielleicht das beste Vorspiel (nicht sexuell), das je in Musik gegossen wurde. Denn dann rutscht der Fuß auf der spiegelglatten Eisfläche aus und ab geht die wilde Fahrt. Und finster wird es! Finster! Finster! Finster! Es geht nur noch ums Überleben und nein, es wird nichts damit. Das an anderen Stellen des Internet Menschen Kim Gordons stimmliche Performance als „sexy“/“erotisch“ bezeichnen, kann nur damit entschuldigt sein, daß jene Menschen sich nicht um den Hintergrund des Textes von „Eliminator jr.“ kümmerten.

Kim Gordon nahm die Rolle von Jennifer Levin ein, das Opfer des sogenannten „Preppy Killer“, ein R. Chambers, wurde. Dieser Fall hatte New York am 26. August 1986 erschüttert. Die Aufarbeitung gerade durch die Medien, die schon damals auch ein gerne den „hoffnungsvollen, jungen Mann“ hofierten, während das Opfer nur das böse Flittchen ist, war grenzwertig. Die Verteidigung baute unter anderem darauf auf, die tote Jennifer Levin als Nymphomanin, die ein Sex-Tagebuch führte, darzustellen. Chambers wollte auch den Tod durch Erwürgen herbeigeführt haben, als er das Opfer während des „rough sex“ von sich habe stoßen wollen. Nun, ein 100-kg-Typ ist einem vermutlich etwas mehr als halb so schweren Mädchen körperlich völlig unterlegen (Zynismus wieder aus). Immerhin saß R. Chambers seine kompletten fünfzehn Jahre ab, und ist inzwischen wieder inhaftiert (Drogendelikte).

Mit diesem Hintergrundwissen gewinnt die Zeile „take a walk in the park“ eine neue Bedeutung, denn dort geschah der Mord. Wie auch „a poor rich boy coming right through me“.

Der Mond steht strahlend am Himmel in all seiner Herrlichkeit. Am Boden liegen zwei Körper. Die Band führt den Song mit Krawall und kratzigem Bass fort. Die Gitarren heulen noch zweimal auf, wie dramatisches Aufbäumen, dann wird der Druck zu stark. Das Lied ist zu Ende.

Nehmen Sie bitte die Hörer von/aus den Ohren. Sie leben. Das ist gut, oder?