„drown“ : Smashing Pumpkins / Singles (Soundtrack) / Sony (1992)

Dieser Text war Teil eines geplanten Kurzgeschichtenzyklus namens „One Hundred Bitter Records“, ca. 2004

Um 13.00 Uhr war Feierabend.

Ich konnte es nicht nachvollziehen, doch mein Filialleiter kehrte mich ebenfalls vor die Türe. Alle anderen waren schon längst abgezogen, nur ich stand noch unentschlossen neben meinem Fahrzeug, wartete auf Eingebung: Keine Idee, wie diesen sogenannten Feiertag zu zerschlagen. So sprang denn wenige Momente später der Motor an, mein Wagen rollte vom leeren Parkplatz weg in den halben Tag. Die sieben Kilometer Weg liefen an meinen Augenrändern entlang; Haus – Haus – Gegend – Haus – Mittelstreifen – Haus – Kreisverkehr – Gegend – Fluß – Haus – Ampel – rot. Dann die Einfahrt und raus und rein.

Die Katze wartete auf Futter, die Spüle auf Tat, die Wäsche auf Entstapelung, so warf sich das Leben mir in den Weg und schon sah ich mich straucheln. Und die Glotze an, wo Welten schreiend zu Gericht saßen oder eben die andere Realität ihre Fratze zeigte, die wohl im Nachbarort auch gerade auf Hochtouren rotierte. Ohne mich recht zu besinnen, sah ich mein Spiegelbild an, verachtete meine Alterserscheinung und überließ die Puder und Stifte ihrem eigenen Leben. Nur die Katze erreichte eine Notbefriedigung und ich stob zur Türe hinaus.

Es war mir klar, daß ich an diesem Tag doch weit außerhalb parken muß. Fußweg fünf Minuten, welch ein Andrang wird sich dort schon stapeln und dieser Lärm, diese Musik, die herüberschallte. Geschrei und Kriegsgetümmel und in meiner Brust eine ameisige Erregung, noch nahe der Angst. Dann: Eine Straßenecke weiter, ich wurde Teil der Schlacht. So stand ich nun und starrte; Wagen um Wagen zog vorbei. Ein Schnapsgläschen voll mit Rot hielt mir eine Frau entgegen und ich war zu scheu und nervös, um Anstalten zu machen. Das Auto war mir schnell egal, ich kippte das schmierige Öl in die Kehle. Mir wurde sofort der Sinn schummrig und warm, angenehmst warm. Die Reihe bahnte sich ihren Weg, Gläschen um Gläschen. Dieses Anbahnen, dieses unvermutete Schwimmen, der Swing der Sinne; eine neue Schönheit;

die Menschen, so sehe ich sie doch täglich, nun hier auch so manches Gesicht, das mir bereits hofierte am Geldfluß, beim Fischfang, am Geldfluß dort. Während des Fischens, „anbahnte“; die Musik liegt in der Luft und der Tanz. Die Menschen, die ich doch liebe und das rote Kehlenöl, das so sanft mich führt. Es war eine sehr gute Idee, hierher zu kommen, mich fallen zu lassen. Ich sehe einem Mann in die Augen, er gibt mir Saft; einer Frau in die Augen, sie gibt mir Feuer. Und die Hände voll, zieht eine Andere mich mit, sagt: ich hab dich schon mal gesehen, komm. Wieso hatte ich solange Angst vor diesem bunten Treiben; die Kälte der Jahreszeit, die Kälte meines Herzens? Oder die schlimmen Bilder, die ich immer im TV zu sehen bekam, die mich erfrieren ließen in der Wärme meiner sicheren Wohnung: Mainz, Köln, Düsseldorf, oh meine Götterschar! Während mir die Desorganisation durch das Rückenmark torkelt, wundere ich mich in der Hand eines verschwommenen Menschen über die Art des Wesens. Was? Weiß nicht mehr… Einige Schritte weiter, kein Durchkommen mehr in der Menge und die Person sieht mir wieder ins Gesicht: Schade, hier geht’s nicht mehr weiter, bleiben wir einfach mal hier. Ich bin übrigens Iris. Ein mir lange unbekannter Automatismus wirft meinen eigenen Namen aus. Streiche mir durchs Haar. Werde jetzt verlegen, kann mir dieses Gesicht nicht wirklich an einer anderen Stelle meines Erlebens vorstellen. Mein Blick sinkt zu Boden, zählt zerquetschte Bonbons auf Kopfsteinpflaster. Steigt erneut hoch, Iris ist weg. Kälte legt sich unvermittelt über meinen Körper und die rechte Hand winkt einem vorbeischunkelnden Wagen zu, dabei der dringende Wunsch nach Alkohol, wirft es sich in die Schwingungen der Stimmbandmafia hinein, die tönt und blöckt und sich in Schreie steigert und aus sich heraus gallt und trällert und fällt und stolpert und drauf ohne Sinngebrauch kleine Steinchen aus eingeschränktem Gesichtsfeld herauswischt und in einen Singsang verfällt. Innehält. Es gibt keinen Grund das Singen auch nur in Frage zu stellen! Wozu dann sogar einstellen? Die Welt kann nur ein elendiger Ort sein, an welchem der Gesang verstummt. Es ist meine Pflicht den Gesang aufrechtzuerhalten. Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert, alles vergebens, sie war nicht eingeschmiert. Ein Schnaps ist nie vergebens eingesetzt. Und es ist doch so gigantisch anzusehen, wenn in dieser Februarnässe junge Männer in Muskelshirts ihr pralles Fleisch zur Schau stellen. Ich lasse die Bilder durch meine Augen tief in mich eindringen. Und singe.

Da sehe ich Iris auf der anderen todbevölkerten Straßenseite und winke, sie achtet wohl auf andere Impressionen und ich sehe mich zwischen den Fragen eingekeilt, weshalb mir „Impressionen“ durch den Sinn wandeln und aus welchem neumodischen Grund mir diese Frau winkenswert erscheint. Und greife mir das nächste Glaserl. Auf geht’s Buam, singen! Also lasse ich mich nicht von jemanden bitten und werfe mich an die Spitze des Zugs. Die große Trommel gibt einen unwiderstehlichen Rhythmus vor. Es treibt mein Geist dahin. Umgreifen mich Welten; bin ich Teil einer Masse, woge einher; wirbele und tänzele. Plastische Leichtigkeit und Schwung. Der Sprung in eine Pfütze, kaum Möglichkeit zum Anlauf. Murmeln und Zischen erhebt sich in einer benachbarten Galaxis und ein kleines Mädchen lächelt und wendet sich ab. Dann: Gregor gesehen, den Fahrer des Bierlieferanten. Das junge Früchtchen, das feiste Kinn gegen den Himmel gereckt, sehe ich ihn schreien, frohlocken und den Wind um seine Löckchen, haselnußbraun. Soll ich zu ihm hin? Weiß nicht, an der Hand genommen zu werden ist soviel einfacher. Lehne mich mal an den Zaun hier, muß mal durchatmen, meinem Magen ist auch nicht so gut, war wohl doch zuviel. Aber, es muß doch weitergehen, oder? Kann doch hier nicht einfach so ein Ende erscheinen, ungebeten? Klar, dreht sich alles, bin auch nix gewohnt, sonst. Ist das ein scheißkraut, da, wieder n zaun, –

anm. des verfassenden bezüglich der unmöglichkeit an irgendeiner stelle des deutschsprachigen schriftwesen den ausruf spei! annähernd gehaltvoll einzusetzen, außerdem schauen wir hier doch lieber weg, die anwohner werden sich entrüsten!

– nächster Morgen: die Katze: gibt das bald wieder was zu fressen? Immer nur mit staubwolken spielen!

die frau, erinnerungsfetzen, während sie auf die endlich einzusetzende dämmerung wartend, leicht verzweifelt ihr kfz nicht findet, stand sie säuerlich und schaute die narren singend tanzend stimulierend mittendrin der gregor, kleiner gott, sein blick ohne aussage ohne gefühl ohne die aufforderung dreht er sich wieder weg nichts wird sich ändern nichts wird sich in dieser zeit noch ändern nichts wird und mein auto ist nicht mehr da wozu

Der Aufstieg des Antisemitismus im 2. Deutschen Kaiserreich (1871 – 1918) zwischen 1878 und 1890

An welchem Punkt startet eins ein solches Thema, denn wir alle wissen, dass Antisemitismus ein Phänomen ist, das es seit Jahrhunderten an allen Orten, an welchen Juden & Jüdinnen lebten, immer wieder gab, dabei in mehr oder weniger schwerwiegender Ausprägung.

Deutsche Antisemiten im Anzug.

Blicken wir daher zunächst einmal kurz auf den örtlichen Rahmen & wie er sich entwickelte.

Der Vorläufer des 2. Deutschen Kaiserreich war der Deutsche Bund, der sich nach den sogenannten Befreiungskriegen gegen die Napoleonische Herrschaft & dem folgenden Wiener Kongress gebildet hatte. Dieser Bund war ein staatsähnlicher, föderativ gedachter Rahmen für (ab 1817) 39 souverän regierte Staaten (darunter vier freie Städte). Dabei wurde zunächst die „großdeutsche“ Lösung vorgezogen & Österreich war Teil des Deutschen Bundes. Die Geschichte des Bundes wurde bis zu seinem Ende 1866 von folgenden Aspekten beherrscht:

  • Der aus dem „Alten Reich“ (bis 1806) übernommene Gegensatz zwischen Österreich & dem weiter aufstrebenden Königreich Preußen
  • Das allmähliche Einsetzen der Industriellen Revolution
  • Das Streben nach Liberalisierung von Seiten des wachsenden Bürgertums
  • Die ebenso beginnende Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins

Dieser letzte Punkt wird im späteren Kaiserreich einer der bestimmenden Faktoren des wachsenden Antisemitismus werden. Doch bereits im Deutschen Bund ist dieser immer wieder aufgeflammt, erstmals in den Hep-Hep-Krawallen (1819), die sich auf dem gesamten Bereich des Deutschen Bundes ausweiteten (über die Grenzen hinaus bis nach Dänemark), jedoch vor allem im südlichen und westlichen Bereich, beginnend in Würzburg. Ein Faktor, der zu den Krawallen führte, war die während der Napoleonischen Herrschaft administrative Gleichstellung der Juden in den linksrheinischen Gebieten. Dies wurde teilweise auch in Preußen durch das „Edikt betreffend der bürgerlichen Verhältnisse der Juden“ durch Friedrich Wilhelm III. übernommen, wodurch u.a. bürgerliche Grundrechte & auch Niederlassungs- & Gewerbefreiheit erteilt wurden. Folgend wurden während der Hep-Hep-Krawallen vor allem jüdische Handelstreibende angegriffen. Das preußische Edikt wurde vom gleichen König teilweise 1822 wieder zurückgenommen.

Letztlich blieben Juden trotz dieser teilweisen, auch zeitlich begrenzten Verbesserung weiterhin eine rechtlich marginalisierte Bevölkerungsgruppe.

Führende Persönlichkeiten, welche das deutsche Nationalbewusstsein zu mehren suchten, waren in dieser Epoche die folgenden, welche ebenso antijüdische Ressentiments bedienten:

  • Ernst Moritz Arndt („Der Gott, der Eisen wachsen ließ…“)
  • August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (immer noch der Autor der deutschen Nationalhymne)
  • Clemens Brentano
  • Friedrich Ludwig Jahn (bekannt als Turnvater Jahn)

Alleine in für damalige Verhältnisse linksliberal denkenden, aber das nationale Gefühl stärkenden Menschen fanden sich Juden unterstützende Menschen. Hier ist als Beispiel das Hambacher Fest von 1832 zu erwähnen, bei welchem u.a. der jüdische Publizist Ludwig Börne als Ehrengast anwesend war.

Der deutsche Bund endete 1866, nachdem der Konflikt zwischen Preußen und Österreich zum Deutschen Krieg eskalierte. Preußen & Verbündete siegten, es entstand der Norddeutsche Bund, zu welchem im Anschluss an den weiter siegreichen Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 die außer Österreich noch fehlenden Staaten stießen & das 2. Deutsche Kaiserreich entstand, an dessen herrschaftlicher Spitze der Kaiser aus dem Haus der Hohenzollern stand, in jenem Fall Wilhelm I.

In einer wirtschaftlich enorm florierenden Phase, die bereits zur Zeit des Deutschen Krieges begonnen hatte, überhitzten die Märkte, es kam zum sogenannten „Gründerkrach“ 1873, in dessen Folge etliche neu gegründete Banken, Unternehmen in den Bankrott rutschten. Aktienkurse brachen nicht nur in Europa ein: es begann bis in die 1890er Jahre während der damals so betitelten „Große Depression“, aus späterer Sicht jedoch vielmehr eine Phase der Stagnation, des schwankenden Wirtschaftswachstums.

Es kann kaum verwundern, dass in der Folge erste judenfeindliche Vorwürfe gemacht wurden. Doch warum war dies so? Wie zuvor schon geschrieben, stand es über viele Jahrhunderte schlecht um vor allem die Handels- & Gewerbefreiheit für Juden im deutschen Raum. Die endgültige Aufhebung der Beschränkungen traten erstmals 1862 in Baden, 1869 im Norddeutschen Bund & durch Übernahme dieser Bestimmungen ab 1871 im gesamten Deutschen Reich ein. Dadurch waren viele Juden selbst 1873 noch in ihrem seit langem angestammten, eingeschränkten Geschäftsbereich, das unter anderem den Geldverleih oder auch das Bankwesen beinhaltete. Allein ihr Wirken in diesem Bereich, der im Zentrum des „Gründerkrach“ stand, machte sie zur Zielscheibe.

1876 veröffentlicht der schon zuvor in dieser Hinsicht auffällig gewordene Otto Glagau seine Schrift „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“.

Der Begriff des Antisemitismus war zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich alt. Er war 1860 durch den jüdischen Bibliografen Moritz Steinschneider geprägt worden, der ihn in einer Auseinandersetzung mit dem französischen Gelehrten Ernest Renan gebrauchte, welcher „die Semiten“ als des „geistigen, Fortschritts fremd“ beschrieb. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Begriff des Antisemiten von den entsprechend denkenden Menschen mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit als Eigenbezeichnung verwendet.

In der Folge von Glagaus Schriften sollte sich das permanente judenfeindliche Grundrauschen, das sich seit Jahrhunderten in gewalttätigen Spitzen äußerte, zu einem Klotz wandeln, der in der Mitte der Gesellschaft, vor allem der bürgerlichen & akademischen materialisierte.

Es folgte 1878 die Gründung einer noch unbedeutenden Partei, der „Christlich-sozialen Arbeiterpartei“ durch Adolf Stoecker. Diese verfolgte zunächst das Ziel, der Arbeiterschaft eine Alternative zur Sozialdemokratie zu bieten, daneben auch ein christlich-nationales Weltbild. Als der direkte Erfolg ausblieb, wurde das Programm um den Antisemitismus erweitert. Der Gründer der Partei, Adolf Stoecker, war bereits seit 1874 einer der Hofprediger der Hohenzollern. Seine höchst nationalistisch gehaltenen Schriften hatten ihm den Weg zu dieser Stellung geebnet. Das im Parteiprogramm verankerter Antisemitismus ein Erfolgsmittel sein könnte, hat Stoecker auch selbst in die Wege geleitet, doch zunächst erregte ein anderer Zeitgenosse auf diesem Feld für leichte Erregung.

Wilhelm Marr, ein Journalist, der bereits 1862 in einem Artikel „Der Judenspiegel“ darüber lamentierte, dass Juden alleine durch ihre Sonderrechte einen Missbrauch betrieben, der auf einem religiösen Exklusivitätsanspruch basierte, betrat im Februar 1879 erneut diese Bühne. Das er in seinem bisherigen Leben viele geschäftliche Beziehungen mit jüdischen Mitbürgern genutzt hatte, darüber hinaus Ehen geführt hatte, in welchen entweder Partnerperson oder deren Eltern jüdischen Glaubens waren, schien ihn nicht weiter zu beschäftigen. Er veröffentlichte die Demagogie „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ & leitete damit die erste Phase dieser Hassorgie ein. Er setzte hierbei einen neuen & für die folgende Zeit durchaus entscheidenden neuen Ansatz: Er strich den Gegensatz zwischen Juden & Christen, setzte hierfür eine Feindschaft zwischen Juden & Germanen, der letztlich für den mindestens kirchenkritischen Nationalsozialismus später zum Trumpf werden sollte. Marr beschritt mit diesem Aspekt den Weg zum Rassismus.

Im September 1879 folgte nun wieder Adolf Stoecker, der eine Rede vor seiner Partei mit dem Titel „Das moderne Judenthum in Deutschland“ hielt, die auch im Folgejahr gedruckt wurde. Stoecker, der evangelische Prediger, widmete sich im Gegensatz zu Marr wieder dem religiösen Widerspruch zwischen Juden & Christen, doch Marr folgte ihm ganze zehn Tage später schon mit der Gründung der „Antisemitenliga“ am 26.09.1879. Diese Vereinigung brachte als ein Merkmal späterer Gruppierungen das „Führerprinzip“, ebenso eine strenge hierarchische Ordnung. Das Ziel der „Antisemitenliga“ war eine „quantitative Verringerung der Semiten, das Zurückdrängen aus Ämtern, das Ende der Verjudung des deutschen Reiches“. Die Beweisführungen Marrs & Stoeckers, so verschieden ihre Ausgangspunkte waren, blieben auf alten Wegen & bedienten sich lange schon schwelender Verleumdungen, die auch nicht davor zurückschreckten, zeitgenössische Kriminalfälle als jüdische Ritualmorde umzudeuten, wie den späteren Fall der Eszter Solymosi in Tiszaeszlár (1882), der auch im Land des Geschehens, Ungarn, für entsprechende Verdächtigungen sorgte & von den deutschen Antisemiten dankbar instrumentalisiert wurde.

Auch wenn Marr & Stoecker schon für leichten Wellenschlag gesorgt hatten, war dies nur das Fundament. Einen sehr viel größeren Ausschlag erfuhr eine Denkschrift des damals noch grundsätzlich hochgeachteten Historikers Heinrich von Treitschke: „Unsere Aussichten“ (15.11.1879), welcher in seinem Schlussteil den Satz „Die Juden sind unser Unglück“ enthielt. Daneben erscheinen einige Äußerungen des Textes sehr modern, denn von Treitschke argumentierte, dass seine Ansichten weit verbreitet seien, doch wegen eines „weichlichen, philantropischen Weltgeistes“ & einer „Tabuisierung“ innerhalb der liberalen Presse würden sie nicht ausgesprochen. Diese Argumentation findet sich auch schon bei Wilhelm Marr.

Mit von Treitschkes Aufsatz erreichte der Antisemitismus nun eine breite Diskussionsbasis im Bürgertum, sowie den intellektuellen Kreisen. Er war salonfähig. Das Schwierige an von Treitschkes Vorstoß war, das durch seine scheinbar objektive, wissenschaftliche Darstellung Futter geschaffen wurde für die wachsende Menge an Menschen, die sich diesem Pulk zugehörig fühlten. Für diese Leserschaft wurde der antisemitische Teil der vorher genannten Schrift „Unsere Aussichten“ mit zwei späteren Artikeln zu einem Pamphlet mit dem Titel „Ein Wort über unser Judenthum“ zusammengefasst, das allein 1880 in drei Auflagen gedruckt werden musste.

Von Treitschke fühlte sich ursprünglich zu seinem Ausbruch bemüßigt durch die Rezension des elften Bandes der „Geschichte der Juden“ des Historikers Heinrich Graetz. Von Treitschke warf Graetz stellvertretend in den Ring als Beispiel eines anti-deutschen & anti-christlichen Juden. Das innerhalb der vorangegangenen Jahrzehnte gewachsene deutschnationale Selbstverständnis diverser politischer Gruppierungen innerhalb des nun vereinigten Deutschen Reiches scheine nicht von Juden geteilt zu werden, vielmehr würde die Nation als mögliche, wirtschaftliche, zollfreie Spielwiese angesehen, anstatt sich einer freiwilligen Assimilation in die deutsche Kultur hinzugeben. Einer der Vorwürfe von Treitschkes zielte auch auf einen spezifischen „jüdischen Nationalismus“, den Graetz verfolge, die Idee eines jüdischen Staates im Staate als „nationale Sonderexistenz“. Hier ließe sich die Frage stellen, ob diese Idee einer Sonderstellung nicht von der christlichen Mehrheitsgesellschaft zuvor gefördert, gar rechtlich manifestiert wurde durch die jahrhundertelange Beschränkung grundlegender Rechte für Juden.

Von Treitschke erhielt durchaus enormen Widerspruch für seine Ausführungen, jedoch zunächst nur aus wissenschaftlichen & jüdischen Kreisen, sowie von zwei jüdischen Parteigenossen Von Treitschkes in der nationalliberalen Partei, die in den 1870er Jahren eine sehr prominente Rolle spielte, um die Pläne des Reichskanzlers Otto von Bismarck parlamentarisch zu untermauern. Darunter fielen in den 1870er die Unterstützung im sog. „Kulturkampf“, dessen Ziel die Schwächung katholischer, papistischer Machtpositionen im Deutschen Reich waren. In der Folge kämpften beide Kräfte zusammen gegen „gemeingefährliche Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (ab 1878). Doch diese Gegenstimmen blieben in der restlichen, nicht-jüdischen Gesellschaft recht unbeachtet.

Dies änderte sich erst mit dem Auftritt des hochgeachteten Historikers Theodor Mommsen, der am 10.12.1880 seine Replik „Auch ein Wort über unser Judenthum“ an die Öffentlichkeit brachte. Darin schreibt Mommsen diese Worte:

„Der Antisemitismus ist die Gesinnung der Canaille.
Er ist eine schauerliche Epidemie.
Man kann ihn weder erklären noch teilen.
Man muss geduldig warten,
bis sich das Gift von selber austobt und seine Kraft verliert.“

1891 wird Theodor Mommsen auch Mitbegründer des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“.

Doch ist auch Mommsen 1880 teils ambivalent. Das Thema „jüdischer Wucher“ hält er für relevant. Auch sähe er gerne jüdische Menschen als Konvertiten zum preußischen, evangelischen Christentum. Es gab jedoch immer noch einen scharfen Gegensatz zwischen Mommsen und von Treitschke, der schon darin lag, dass Mommsen keine festen Forderungen an jüdische Menschen äußerte. Darüber hinaus verurteilte er von Treitschke scharf dafür, dass dessen Äußerungen den zuvor schwelenden Antisemitismus auf eine wissenschaftliche Ebene gehoben hatte.

Mit Mommsens Replik war nun die Thematik auf den nationalen Tee- & Stammtischen angekommen.

Von Treitschkes Vorstoß hatte jedoch schon kurz vor Mommsen eine erste massive Folge verursacht. 

Bernhard Förster & Max Liebermann von Sonnenberg fühlten sich dazu angestachelt, im November 1880 im Reichstag eine „Antisemitenpetition“ vorzulegen (unterzeichnet von ca. 250.000 besorgten Bürgern), die darauf zielte, jedwede Verbesserung des Status für Juden im damaligen deutschen Reich rückgängig zu machen. Die Vorlage wurde sehr kontrovers diskutiert & in diesem Fall mag es ein gewisser Segen sein, dass der Reichskanzler Otto von Bismarck sich nicht dem Parlament verpflichtet fühlen musste in seinen Entscheidungen. Er ignorierte die Petition. Eine Parlamentsentscheidung wäre mit den zahlreichen Stimmen der nationalliberalen & verschiedenen konservativen Fraktionen sicherlich zugunsten der Antisemiten ausgegangen. Gefordert in der Petition wurden:

  • Einschränkung der Einwanderung von Ostjuden aus Österreich-Ungarn und Russland.
  • Ausschluss der Juden von allen obrigkeitlichen Stellungen, insbesondere vom Richteramt.
  • Verbot der Anstellung jüdischer Lehrer an Volksschulen und enge Begrenzung ihrer Einstellung an allen übrigen Schulen.
  • Wiederaufnahme der amtlichen Statistik über die jüdische Bevölkerung.

Die beiden Agitatoren Förster und Liebermann von Sonnenberg sind auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder durch übles Tun aufgefallen. Beide hatten sich in der sogenannten „Berliner Bewegung“ gefunden & von dort aus die Petition gestartet, die auch von Ernst Henrici unterstützt wurde, von dem wir noch lesen werden. Förster heiratete 1885 Elisabeth Nietzsche, die Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche, der sich immer wieder wortreich gegen die Ziele der antisemitischen Bewegung wandte. Zu dieser Zeit waren Bruder & Schwester auch voneinander entfremdet. Förster wanderte nach dem die „Berliner Bewegung“ auseinandergebrochen war, mit seiner Ehefrau nach Paraguay aus, um dort eine Kolonie namens Nueva Germania zu gründen. Die Kolonie blieb auf Dauer erfolglos, & 1889 nahm er sich dort das Leben.

1881 noch gründeten diese beiden Menschen zusammen den „Deutschen Volksverein“, der in der Literatur als „antisemitische Kohorte gegen die in Berlin übermächtige, aber angeblich ‚verjudete‘ Fortschrittspartei“ bezeichnet wird.

Am 13.02.1881 hielt der bereits erwähnte Ernst Henrici in Neustettin eine judenfeindliche Hetzrede. Fünf Tage später brannte die dortige Synagoge. Die verantwortlichen Personen für diese Tat wurden nie gefunden.

Auftritt Eugen Dühring, der in jenem Jahr ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- & Culturfrage“. Ich bin erschüttert, dass dieses Werk heute noch in Antiquariaten, sowie als moderner Reprint angeboten wird. Es ist das Drehbuch für das, was ab 1933 im sogenannten „Dritten Reich“ gegen jüdische Menschen auf verbrecherische Art & Weise geschah. Dühring ist der erste Mensch, der in diesem Buch öffentlich verlautbaren ließ, dass eine „Lösung der Judenfrage nur international zu regeln sei, da eine Vertreibung das Problem nur verlagere“. In der Erstauflage lässt Düring noch die Errichtung von Einrichtungen zu „völkerrechtlicher Internierung“ zu. In einer 1900 veröffentlichten Neuauflage proklamierte er schon offen die „Vernichtung des Judenvolkes“.

Dühring setzte sich in seinem schändlichen Werk für eine komplette Entrechtung jüdischer Menschen ein. In seinem Denken war dies nicht nur auf das damalige deutsche Kaiserreich begrenzt. Mit ihm erreicht der damalige Antisemitismus im zweiten deutschen Kaiserreich einen Tiefpunkt in seiner enormen Radikalisierung. Es ist aus heutiger Sicht enorm erschütternd, über diesen Menschen zu lesen, wenn eins den weiteren Weg kennt.

Die zuvor bereits erwähnte „Berliner Bewegung“ organisierte gemeinsam mit dem 1879 gegründeten antisemitisch ausgerichteten „Deutschen Reformverein“ 1882 den ersten „Internationalen Antijüdischen Kongress“, der am 09.09. des Jahres in Dresden begann. Am 27.04.1883 startete der zweite Kongress in Chemnitz. Das Positivste, was sich über diese beiden feindseligen Veranstaltungen sagen lässt, ist, dass ein Unterschied zwischen radikalen & gemäßigten Antisemiten spürbar wurde & daher diese beiden Veranstaltungen relativ folgenlos blieben. Ebenso beginnt mit dem Scheitern in Chemnitz die heiße Phase des Antisemitismus etwas abzuflauen. Die Einheit der bisherigen Bewegung war spürbar aufgebrochen, es begann eine Zeit der Differenz. Darüber hinaus löste sich die „Berliner Bewegung“ auf.

Es dauerte bis 1887, bis eine neue Buchveröffentlichung die Wogen dieser Bewegung wieder ansteigen ließ. Der von Eugen Dühring beeinflusste Theodor Fritsch veröffentlichte den „Antisemitismus-Catechismus“, der bis in die Zeit des Nationalsozialismus gerne von Menschen dieser Denkungsart zur Hand genommen wurde (neben Dühring, sowie weiteren, späteren Veröffentlichungen von Fritsch). 1902 gründete Fritsch in Leipzig den Hammer-Verlag, in welchem u.a. das Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in deutscher Sprache erschien, sowie die Sammlung „Der internationale Jude“, die von dem amerikanischen Industriellen Henry Ford (ja, dieser Henry Ford! Ja, nicht nur das Unternehmen Volkswagen basiert auf antisemitischer Denkungsart) initiiert wurde auf der Basis der von ihm gegründeten Zeitung Dearborn Independent.

Theodor Fritsch war auch mit dem bereits erwähnten Max Liebermann von Sonnenberg bei der Gründung der Deutschsozialen Partei 1889 engagiert, die sich aus der Deutschen Antisemitischen Vereinigung (1886 gegründet) erhob. Die Parteiprogrammatik war schmal: Antisemitismus. Nebenbei kümmerte sich die Partei noch um einen sozialkonservativen Monarchismus & Landwirtschaft, damit außerhalb der Entrechtung der Juden alles bliebe, wie es je immer gewesen ist. Nach einigen zwischenzeitlichen Umstrukturierungen ging diese Gruppierung in einer noch besser betitelten Partei auf: Deutschvölkische Partei. Nach der Novemberrevolution 1918 schloss sich diese der Deutschnationalen Volkspartei an, die später zum untertänigen Steigbügelhalter Hitlers wurde.   

Den Abschluss macht Hermann Ahlwardt, der 1890/92 ein dreiteiliges Machwerk veröffentlichte unter dem Obertitel „Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum“. Wie schon andere zuvor, suchte Ahlwardt das jüdische Volk u.a. durch Verweise auf das Alte Testament zu diskreditieren. Auch das Versagen der kapitalistischen Welt, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm, war allein die Schuld aller Juden. Ahlwardt machte sich nebenher auch einen Namen damit, jüdisch geführte Unternehmen wegen vermeintlicher Skandale, z.B. die Waffenfabrik Ludwig Loewe & Co., der er vorwarf fehlerhafte Gewehre an das deutsche Militär zu liefern. Es dauerte bis 1903, bis selbst andere, stämmige Antisemiten von diesem Menschen genug hatten & ihn in der Bedeutungslosigkeit versauern ließen (hätte öfter & grundsätzlicher passieren dürfen).

Mit Hermann Ahlwardts Versuchen den Antisemitismus im Meinungsmainstream zu halten, endete diese Phase. Das deutsche Bürgertum dürstete ab den 1890er stärker nach kolonialer Präsenz, nach internationalem Machtbeweis, nach Führung.

Erst 1899 loderte diese Flamme wieder grell auf, als Houston Stewart Chamberlain, der 1916 die deutsche Staatsbürgerschaft annahm & zuvor schon ein glühender Liebhaber der deutschen Kultur, vor allem Richard Wagners & dessen Töchter war, „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ auf den Markt warf. Rassentheorie, Sozialdarwinismus, Antisemitismus in einem Band als Napalm für das 20. Jahrhundert. Doch das ist eine weiterführende Geschichte.

Nicht zu vergessen ist allerdings, dass der Antisemitismus nicht nur im damaligen deutschen Reich ein großes, auch gerne größeres Thema, wie dargestellt, war. Keine europäische Nation stand hier im Abseits & bot einen sicheren Hafen. Die Dreyfus-Affäre in Frankreich, die Erstellung des Pamphlets „Die Protokolle der Weisen von Zion“ im zaristischen Russland, der grundsätzliche Judenhass der englischen Oberschicht. Die Hände waren überall beschmutzt. Wohin das führte? Unter anderem zu der peinlichen Konferenz von Évian im Juni 1938, als sich zahlreiche Nationen hinter Absichtserklärungen versteckten, doch niemand wirklich die Grenzen für verfolgte Juden aus dem Dritten Reich öffnete, obwohl jeder um die damals schon unerträglichen Umstände wusste.

Der rote Faden in Deutschland wurde in der hier dargestellten Zeit angelegt. Das galt es mir aufzuzeigen.

Why David Bowie – & warum eigentlich „Heroes“?

Ich erzähle es dir im Vertrauen. Wenn du einen Moment Zeit hast.

Stell dir die kleine Isa vor, die in Hörweite eines Radios sitzt & es ist 1980 & es läuft „Ashes to Ashes“ im Radio. Ohne dass es mir damals klar war, ich wurde eingefangen. Was später passierte, ist nicht von Belang hier. Warum hat mich „Heroes“, das 1977 in Berlin aufgenommen wird, bis heute gefangen, seit ich es erstmals hörte?

Das Coverbild der 1977er LP

Es passt zu Bowies Idee von „Sound And Vision“, ein ebenfalls 1977 veröffentlichter Song heißt. Der Sound, die Bildhaftigkeit fasste mich & das total. Auf dem Boden spielt ein durchaus ideenreich konzipierter Rocksong mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, doch bleibt es nicht alleine. Es gibt einen akustischen Himmel, in dem die von Robert Fripp gespielten Gitarrenrückkopplungen von Anfang schwere Wolkentupfer malen, dabei auch bis ins Weltenall ausgreifen. Eine Armada an schwebenden, flirrenden Synth-Sounds von Brian Eno, die den Hintergrund ausfüllen.

& dazu singt David Bowie. Es ist ein Text, der sich den Grenzen ergibt, welche sich in der Realität zeigten. Aufgenommen wurde das Album, der Song in Berlin, im Hansa-Studio, direkt an der Berliner Mauer, die 1977 noch stand. Eine Teilung, eine Trennung, ein Schnitt.

Zunächst erscheinen zwei wichtige Punkte:

a) „Heroes“ erscheint als eine Art Liebeslied in den ersten wenigen Worten. Nicht für mich.

b) Der Titel „Heroes“ wird von Anfang an in Anführungszeichen gesetzt, um eine Distanz zum Heldenmythos im patriarchalischen Sinne zu schaffen.

David Bowie selbst war kein Held.

David Bowie war jedoch mit seinem Umzug von Los Angeles nach Berlin, den er im Herbst 1976 vollendete, einer persönlichen Hölle entronnen. In Berlin war sein Leben nicht unproblematisch, er trank immer noch zu viel Alkohol, doch tagelange Wachperioden mit einer Ernährung aus Milch, ein wenig Paprika & vor allem Kokain endeten. Er klarte langsam auf aus einem körperlich, wie geistig zerstörerischen Alptraum auf.

& in der Mitte dieser Phase der Genesung schrieb David Bowie „Heroes“.

„Ich werde König sein & du Königin“.

In diesen Worten steckt eine gewaltige Selbstermächtigung. Doch spielt sie in der Zukunft, denn

„though nothing will drive them away”.

Wer oder was mag hinter dem hier unpersönlichen „them“ stecken? Für mich ist es eine in sich geschlossene Gesellschaft, die sich als undurchdringliche, abgeschlossene Einheit versteht, darstellt & auf Ausschluss basiert. Die darüber hinaus die Selbstbestimmung der außenstehenden Menschen verneint. & diese Gesellschaft lässt sich kaum von einer kleinen, aus zwei Menschen bestehenden, selbsternannten Monarchie bezwingen.

Doch

„we can beat them just for one day,

  we can be heroes just for one day”

Es besteht immer die Möglichkeit eines kurzfristigen Sieges, einer Infiltration, eines Risses in den Abwehranlagen dessen, was dem „uns“ gegenübersteht. Dennoch sind – ich lasse jetzt mal die Anführungszeichen weg, denn meine Identifikation mit dem Text ist schon sehr lebensfähig – wir nicht unproblematisch:

„And you, you can be mean

  And I, I’ll drink all the time”

Wir sind in diesem Moment noch lange keine Überflieger, wir sind Menschen. Wir stehen außen, aber auch dort sind die Personen nicht per se heilig & edel. Nein, dazu braucht es aktives Handeln.

„‘cause we’re lovers and that is a fact,

  Yes, we’re lovers and that is that.

  Though nothing will keep us together

  We could steal time just for one day

  We can be heroes for ever and ever

  What d’you say?”

In diesem Teil wird letztlich klar gemacht, dass es im Narrativ des Textes etwas Spezielles gibt, eine wichtige Zutat: Liebe. Jedoch auf Augenhöhe, denn ich bin König, & du Königin (sorry für die Binarität, ich weiß, ich weiß). Auch mit dem Wissen um die Endlichkeit, der Erkenntnis um die Mühe, die eins investiert, um der Freude einen Tag gewonnen zu haben. Macht das eins zu einer Heldenperson? Vielleicht die schönste Art dazu.

Einen Tag zu „stehlen“, den Widrigkeiten zu widerstehen, ist jedoch nicht nur in einer Partner*innenschaft ein Gewinn. Es ist immer ein Sieg, vor allem eines marginalisierten Selbst. Gerade in diesem Zusammenhang wird auch der Einstieg wichtig, in welchem wir uns zu selbstbestimmten Herrschenden ernennen.

„I, I wish you could swim

  Like the dolphins, like dolphins can swim”

Es gibt zu dieser Zeile von David Bowie erwähnte Bezüge zu einer Kurzgeschichte von Alberto Denti di Pirajno, die in der auch nach dieser Geschichte benannten Sammlung (englischer Titel:) „A Grave For a Dolphin“ erschien. Es handelt sich dabei um eine bedingungslose Liebe zwischen einer jungen Frau in Somalia & einem Delphin. Die Frau stirbt aufgrund einer plötzlichen, schweren Krankheit. Der Delphin, der immer mit ihr geschwommen ist, folgt ihr kurze Zeit später in den Tod. Die erzählende Person lässt für den Körper des Delphins ein Grab, direkt neben jenem der Frau, ausheben. Es sind diese Zeilen mit denen auch unbedingte Empathie in das Narrativ eingeschrieben wird.

Es folgt die Wiederholung einiger Zeilen, die zuvor schon gesungen sind.

„Though nothing will keep us together,

  We can be heroes just for one day

  Oh, we can be heroes just for one day

  I, I will be king

  And you, you will be queen

  Though nothing will drive them away

  We can be heroes, just for one day”

Es liegt eine gesteigerte Emotion in der Performance & sie mündet nun in

„We can be us just for one day”

Die vielleicht wichtigste Zeile dieses Liedes. Es ist für mich die wichtigste Zeile in diesem Lied. Es ist eine Zeile über Selbstbestimmung, die von enormer Bedeutung ist. Ich möchte diese Zeile, wenn ich in diesem Leben noch einmal auf einer Pride-Demonstration mitgehe, auf ein riesiges Plakat schreiben, es immer wieder laut rufen:

„WE CAN BE US JUST FOR ONE DAY!”

Ich möchte nicht nur, ich will ICH sein. Ich will dadurch mein eigenes Heldenwesen sein. In meiner Existenz steckt die Kraft, der Mut, der Durchhaltewillen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Diesen letzten Satz habe ich bewusst in der Sprache von Gesetzestexten verfasst. So will ich ihn gelesen sehen.

& nun wird die Situation ausgemalt:

„I can remember

  Standing by the wall

  And the guns shot above our heads

  And we kissed as though nothing could fall”

Die permanente Bedrohung über den Köpfen, im Hintergrund des alltäglichen Lebens.

„And the shame was on the other side

  Oh, we can beat them forever and ever

  Then we could be heroes just for one day”

In dieser Situation wird die hoffnungslose Aussage „though nothing will drive them away“ vom Anfang plötzlich gedreht. Sie sind bewaffnet, sie haben Macht, aber wir können sie schlagen („für alle Zeiten“, wie es in der deutschsprachigen Version heißt). Mit der Macht des zugewandten Gefühls, das andere Lieben nennen mögen.

Es folgt die mehrmalige Wiederholung „we can be heroes“ & in einem Gefühl, das die Situation der Realität widerspiegelt wendet der Song sich langsam ab mit den Worten

„We are nothing, and nothing will help us

  Maybe we’re lying, then you better not stay

  But we could be safer just for one day”

Die Realität für marginalisierte Menschen ändert sich nicht durch David Bowies „Heroes“, aber die Gewissheit eines sicher gelebten Tages ist immer Gold wert. Darüber hinaus ist es ein Anker zu wissen, dass es diesen Song gibt & für sechs Minuten & sieben Sekunden das Gefühl der Selbstermächtigung über das eigene Schicksal überträgt.

P.S. die musikalische Atmosphäre des Studiooriginals mit den unwiderstehlichen Gitarrenwolken wird von kaum einer späteren Live- oder Cover-Version erreicht. Monumental seit 1977.

TW SVV, Depression, Suizid, Wut, Gewalt

Liebe Therapieperson,

ich brauche Hilfe. Ich kann nicht mehr schreiben, ich kann nichts lesen, Musik weckt kein Interesse, keine Emotion. Überhaupt bin ich kalt, wie ein Stein. Nur in manchen Phasen ändert sich die Temperatur. Dann überhitze ich vor Wut. Weiß nicht mehr, wohin mit mir. Neige immerhin nicht mehr zu derart harter Selbstverletzung, wie das zu Zeiten noch war, als ich meinen Kopf gegen Wände schlug. Dennoch ist es schmerzhaft. Vor allem im Inneren, wo sich Wirbelstürme die Hände geben.

Wenn ich darüber sprechen könnte. Wenn ich nur darüber sprechen könnte! Ich brauche Hilfe.

Weil ich kaum darüber sprechen kann, fühle ich mich isoliert. Weil ich mich isoliert fühle, kann ich noch weniger sprechen. Dadurch bildet sich die Kälte. In den Momenten, wenn sich durch die Wirbelstürme Erinnerungen zeigen, wird sie durch die Wut abgelöst.

Ich bin wütend über die Menschen, die mich seit meiner Kindheit desintegriert haben. Ich hasse sie! Ich will, dass sie das Leiden spüren, das sie mir eingepflanzt haben, das einfach nicht verschwindet. Egal, wie ich es bis heute anstelle, sie kommen immer wieder.

Sie mäkeln an meiner Sprache. Sie mäkeln an meiner Weigerung, Fleisch zu verzehren. Sie übersehen mich, denn ich sitze still in einer Ecke. Sie sperren mich weg. Sie übersehen geflissentlich meine Versuche, dazuzugehören. Sie negieren meine Existenz. Sie haben kein Interesse an diesem Mensch, er ist nur eine unnötiger Gegenstand in ihrer Welt, um den sie sich herumwinden müssen.

Warum schaffe ich es nicht, die Erinnerung, die Gedanken an sie aus meinem Inneren zu verbannen. Sie kommen immer wieder. Bei Tag, bei Tag & bei Tag. Zur Nacht, zur Nacht & zur Nacht. Sie lassen mich nicht, sie halten meinen Arm, den ich mit Freude & einem Schwert abschlagen möchte. Meine Welt färbt sich in tiefrote Farben. Ich will Gewalt ausüben. Gegen eine schweigende, dann aber mäkelnde Gesellschaft, die meine Existenz nicht akzeptieren will.

Seit meiner Kindheit sehne ich den Tod, meinen Tod herbei.

Wie konnte ich nur so alt werden? Heute weiß ich: atypisch autistisch, endogen & regressiv depressiv, trans gender.

Wie konnte ich nur so alt werden? Mir ist kein wirklicher Überlebenswillen zu eigen. Ich habe eine wuchtige Essstörung. Es ist jeden Tag ein Kampf diese Wunden zu verbinden, mich gegen die Welt zu stellen. Ihr zu begegnen.

Ich brauche Hilfe, wenigstens gegen die Erinnerungen. Deren Stimmen wenden sich in mir auch gegen die Gegenwart. Erzeugen Paranoia, wo diese nie existieren könnte. Höre ich Stimmen in meiner Umgebung, entsteht direkt ein Nebel in meinem Schädel, aus welchem die Stimmen verzerrt schlechtes über mich sprechen. Ich ertrage das nicht mehr. Länger.

Vertrauen ist schwer. Freude ist schwerer. Entspannung ist unmöglich.

Ich bin müde.

Pink Floyd zwischen 1977 und 1979 & was das mit dem Jahr 2022 zu tun haben könnte, dazu der Rest der Welt.

Es ist okay, wenn heute niemensch mehr Pink Floyd hören sollte oder auch nichts mit dem Namen der Band anfangen kann.

Grundsätzlich hat sich diese Formation überlebt. Es mag einen alten Menschen, wie mich, manchmal leicht glücklich machen, den alten Floyd-Schlagzeuger Nick Mason auf YouTube mit seiner heutigen Band zu sehen, welche die Stücke aus der Anfangszeit der Band (bis 1972) wiederbelebt & deren Kraft spürbar werden lässt.

Warum also dieser Text? Ich möchte hierin einen Blick auf die Phase der Band werfen, in welcher der Bassist Roger Waters die kreative Kontrolle mehr & mehr übernahm & dadurch Sound & Texte der Alben „Animals“ (1977) & „The Wall“ (1979) diktierte. Ob ein Lesendes die explizite Musik oder auch weitere Veröffentlichungen der Band kennt, ist unwesentlich. Ich versuche die Musik in Worte zu fassen. Vielmehr geht es unter anderem um die Frage, inwieweit sich Kunst & Kunstschaffende trennen lassen, sowie die Frage nach dem Wert der Kunst für das Leben der Menschen, welche die Kunst konsumieren. Es sind dies alte Fragen, die schon sehr oft gestellt wurden & entsprechend auch schon oft Antworten erhielten. Dies ist mein subjektiv gekochter Senf hierzu, der auf 100% wissenschaftliche Korrektheit verzichten muss. Es geht allerdings auch um die Geschichte der sogenannten Gegenkultur der späten 1960er & ihr Fortbestehen im Angesicht von persönlichem Wohlstand. Vielleicht werden die Fragen beantwortet.

Das sei auch mein Ausgangspunkt. 1977 waren die vier aktuellen Mitglieder von Pink Floyd wirtschaftlich bessergestellt. Spätestens mit dem Erscheinen des Albums „Wish You Were Here“ (1975), mit dem Pink Floyd eine musikalische Wohlfühloase geschaffen hatte, waren ihre Einkünfte im hohen schwarzen Bereich angelangt. Von dieser LP verkaufte man über 20 Millionen Exemplare.

Die kleine, englische Band 1979 (Wright, Gilmour, Waters, Mason – v. links nach rechts)

Es folgte in der musikalischen Szenerie der Heimat Pink Floyds, dem vereinigten Königreich, der Aufstieg des Punks. In dieser Hinsicht existiert auch der Mythos, dass der Sex-Pistols-Sänger John(ny) „Rotten“ Lydon als Sänger ausgewählt wurde, weil er ein Pink-Floyd-T-Shirt mit den Worten „I hate“ erweitert hatte. Die gesamte, vorhergegangene Riege progressiver Bands wurde mit Ablehnung gestraft, da die ursprünglichen Werte der Rockmusik, ihre Einfachheit, Geradlinigkeit, ihre Street Credibility verraten wurden (so die Meinung der Straße, welche Punk wiedergeben wollte).

John Lydon im erwähnten T-Shirt.

Pink Floyd antworteten auf ihrem Album „Animals“ musikalisch nicht darauf. Zwar hatte das Album einen leicht aggressiveren Sound in den Stücken „Pigs (Three Different Ones)“ & „Sheep“, doch grundsätzlich konnte auch zu dieser Platte der Joint kreisen. Es blieb im Herzen Hippie-Musik. Doch nicht in den Texten. Mit „Pigs“ wird die Kompromisslosigkeit des Machterhalts beschrieben, dabei der Orwell’schen „Animal Farm“ gedacht. Dieser Ansatz findet sich auch in „Sheep“, das kaum erklärt werden muss. Im Text finden sich die titelgebenden Tiere auch ihren Schlächtern gegenübergestellt. „Dogs“ widmet sich den Menschen, die sich eine harte Haut antrainieren, um ihre Position zu halten. Es mag besonders den Opportunisten gewidmet sein. Insofern war „Animals“ keine Platte, die für Friede & Freude plädierte. Es waren harte, soziale Kommentare. Doch wo war der Bezug zu den Machern dieser Kommentare? War Roger Waters, der Texter, plötzlich einer linken Vision erlegen? Nein. Es war die Fortsetzung eines Weges, den nicht nur Waters bereits seit langem beschritt. Hier tut eine Rückschau not. Wer waren die Menschen hinter dem Bandnamen Pink Floyd? Es geht nicht ihre individuellen Wege, sondern um einen Blick auf die Strukturen in welchen sie als Musiker reiften & wuchsen & warum dieser Weg sich doch sehr unterschieden von jenen Wegen, der meist nur unwesentlich jüngeren Musiker_innen, welche ihren Platz im Punk/Postpunk-Universum fanden.

Nazareth, 1976: Ehemänner & ein ehemaliger Ingenieur am Mikrophon

Nicht nur die Pink-Floyd-Musiker hatten einen studentischen Hintergrund, von dem aus sie, wie viele der kontemporären Musiker_innen, in die Musikwelt eintauchten & dort entweder kommerziell erfolgreich wurden, oder im Hintergrund blieben, bzw. verschwanden. Es gab nur wenige Künstler, die aus einem Arbeiterhintergrund stammten, die ab dem Ende der 1960er den Durchbruch schaffen konnten. Die schottische Hardrockband Nazareth wäre ein Beispiel, auch der britische Sänger Kevin Coyne, welcher in psychiatrischem Bereich als Sozialarbeiter tätig war, nachdem er auch ein Kunststudium zu Ende geführt hatte.

Robert Wyatt nach 1973: Kommunist & trotz Querschnittslähmung grandioser Schlagzeuger, Musiker ❤

Besonders die ab 1966 aufkommende Psychedelic-Rock-Szene, zu die frühen Pink Floyd zählten, rekrutierte sich nahezu vollständig aus universitären Kreisen, mit einem weitestgehenden Mittelklasse-Hintergrund. Dabei spielte in der Eltern- wie auch Kindergeneration die Nachkriegssituation Englands eine gewichtige Rolle. Vielfach waren die Eltern der Musiker_innen politisch eher linkslastig, meist Wählende der Labour Party. Dies übertrug sich auch auf die Nachwachsenden, um nur Robert Wyatt als ein Beispiel zu nennen, dessen erste, größere Band Soft Machine viele gemeinsame Konzerte mit Pink Floyd im UFO Club in London (1966/67) spielten, & der auf lange Sicht einer der konsequentesten links gerichteten Musiker wurde (dabei Mitglied der englischen Kommunistischen Partei ab Beginn der 1980er). Beeinflusst hierbei wurde Wyatt von einem Cousin seiner Mutter namens Woodrow Wyatt, als Antagonist. Woodrow Wyatt wandelte sich in seinem Leben von einem Labour Abgeordneten zum Freund Margaret Thatchers & Handlanger Rupert Murdochs. Der Weg eines Opportunisten, den Robert Wyatt aktiv zu vermeiden suchte.

Die frühen Jahre Pink Floyds sind nicht von einer aktiven politischen Haltung in der Musik gekennzeichnet. Das den Militarismus ins Lächerliche ziehende Stück „Corporal Clegg“ (1968) ist eine Ausnahme. Doch waren die Floyds alleine schon teilweise durch Auftrittsorte politisch aktiv. Allein auch dadurch, dass sie den Soundtrack zu dem Leben etlicher Aktivist_innen der 1968er lieferten, wurde die Band in eine Rolle gebracht. Dieser entsprachen sie nebenher auch durch die Arbeit an den Soundtracks zu den Filmen „More“ (1969, ein Film über Drogen, die nachfolgende Sucht, den Abstieg, den Tod. Der Soundtrack ist das Beste, was diesem leider langweiligen Film geschieht), „Zabriskie Point“ (1970, ein Film von Michelangelo Antonioni, dessen Qualität Meilen höher liegt. Thema ist auch hier die sogenannte Gegenkultur des Hippie-Zeitalters. Der Soundtrack stammt von unterschiedlichen Menschen, drei Songs von Pink Floyd, die eigens für den Film geschrieben wurden) & „La Vallée“ (1972, der Soundtrack wurde unter dem Titel „Obscured By Clouds“ veröffentlicht. Der Film beschreibt sehr artifiziell die Suche von westlichen Menschen nach den Grenzen der Zivilisation in Papua-Neuguinea. Geschmackssache…).

Das wohl berühmteste Prisma der Rockgeschichte.

Wirklich kritisch zu bezeichnende Texte erschienen erst mit „The Dark Side Of The Moon“ (1973), auf welchem sich „Money“ mit eben jenem Thema sarkastisch auseinandersetzte. Der Einsatz eines Kassenklingelns als rhythmisches Sample verstärkt den Effekt. „Time“ sieht Pink Floyd der Vergänglichkeit des Lebens ein Lied widmen. „Us And Them“ ist dann das verspätete Hippie-Manifest, das uns friedliche Menschen gegen die kriegstreibenden Anderen stellt. Es mag in jedem Konflikt ein schöner Soundtrack sein in all seiner Imposanz, die auch sehr emotional daherkommt, aber es ist auch ein unschöner Ausblick in eine Welt, in der nur schwarz & weiß existent sind, die Grautöne dazwischen ausgelöscht.

Was sollte das Alles bewirken? Es bleibt ungewiss, denn Pink Floyd ähnelten vielen Protagonisten der 1968er, in dem sie sich gegen das bis dato agierende Establishment wandten, es zu bekämpfen suchten & dabei eine neue führende Klasse formierten. Dabei blieben alte Ideale in den Köpfen & wirkten dort jedoch oft nur noch als Leinwand für die Kunst, die veröffentlicht wurde. Der bereits erwähnte Robert Wyatt mag einen anderen, steinigeren Weg gewählt haben, der auch weniger Profit abwarf, doch blieb er der stimmigere, realistischere. Von daher ist der Antikriegssong „Shipbuilding“, den er 1982 singen durfte (geschrieben von Elvis Costello) auch jener, der auch heute noch weitaus überzeugender ist, weil er nicht einfach auf das Geschehen als solches schaut, ein rein pazifistisches Nein zum Krieg ausdrückt, sondern auch die wirtschaftlichen Hintergründe in Betracht zieht: in diesem Fall – bezogen auf den Falklandkrieg den Großbritannien und Argentinien gegeneinander 1982 führten – die Wertarbeiter Englands, die aus einer Krise steigend letztlich von der Aufrüstung der Kriegsflotte profitierten. Wie viele der sogenannten Antikriegssongs, welche die Menschheit seit dem Beginn populärer Musik begleitet, haben einen Blick auf die Arbeitnehmenden, egal in welcher Position sie zum Geschehen stehen, davon vage profitieren oder komplett daraus vertrieben werden? Im Falle von „Shipbuilding“ sind die Jobs der Väter wieder sicherer, während die Söhne in den Krieg gesendet werden.

Die Kunst wurde für Pink Floyd & andere führende Acts ein Mittel zum Zweck. Da konnten die linkslastig wirkenden Texte auf „Animals“ gerne gesungen werden, gehört werden, ein Effekt entstand nicht daraus. & so kam der Moment auf der folgenden „In The Flesh“-Tour, als die Band in Montreal das letzte Konzert der Tour spielte, dass Waters von einer Gruppe Fans in der Nähe der Bühne so verärgert war, dass er sie anspuckte. Hier entstand ein Aspekt des Konzepts einer Mauer.

„The Wall“ ist das komplette Brainchild von Roger Waters, inklusive einiger autobiographischer Aspekte. In diesem Werk wird gerade das eingerostete Werkzeug der Texte neu aufpoliert. Die Worte, welche eins auf „The Wall“ findet, wenden sich zwar nicht direkt an die konsumierende Person, doch weben sie diese stärker ein, als dies zuvor der Fall war. Inwiefern darin eine Gefahr liegt, wird später ein Thema werden. Jedenfalls ist „The Wall“ eine massive Abkehr vor Harmonie, die „The Dark Side Of The Moon“ & „Wish You Were Here” übergeordnet kennzeichnete. Die leichte Aggression von „Animals“ wird erweitert, wird schon in der gesamten Gestaltung, musikalisch, wie graphisch, zu einer Mauer, welche die konsumierende Person zu durchbrechen hat.

Der Protagonist des Albums trägt den Namen Pink. Seine Geschichte ist in vier Akte, vier Vinyl-LP-Seiten aufgeteilt. Er durchlebt im ersten Teil eine eher negative, vaterlose Kindheit, überbehütet. Hier besteht einer der direkten Verweise auf Waters‘ Leben, dessen Vater 1944 als englischer Soldat in Italien fiel. Eric Fletcher Waters war als antifaschistischer Kämpfer auch Mitglied der Kommunistischen Partei.

Die Schulzeit wird in dem bekannten „Another Brick in the Wall, Part Two“ auf das Sarkastischste beschrieben. Hier hebt sich schon die Fraktion der Worte zum ersten Aufmerken: „We don’t need no education, we don’t need no thought control“. Das ist direkt, das ist hochgradig auf Konfrontation gebürstet, das ist Punk mit einem Diskobeat. Zusätzlich singen Schulkinder diese Zeilen mit.

Videostill aus dem offiziellen Clip zum Song

Hier müssen wir einen kleinen Ausblick ansetzen: „The Wall“ erscheint, als Roger Waters 36 Jahre alt ist. Er singt über seine Schulzeit, & wir befinden uns damit in den 1950er. Wer sich je mit dem britischen Schulsystem auseinandergesetzt hat, gerade in der Zeit bis in die späten 1960er, der weiß, dass es hier viel zu kritisieren gab. Doch ist Waters Aussage letzten Endes viel zu vage, um eine explizite Kritik darzustellen. Es ist, als werfe Waters einfach einen Stein in die Wildnis, mit dem Wissen, das er sicher etwas treffen wird. Es mag überraschen, dass es gerade 1979 in England einen Tophit gab, der im Gegensatz zu dem letztlich leider bekannteren Pink-Floyd-Song eine sehr konsequente Kritik des Klassizismus des englischen Schulsystems abgab: „Eton Rifles“ von The Jam. Hier geht es eindeutig um den festen Graben, der eine Eliteschule, wie das Eton College, von potenziellen Schülern schützt, die zur Arbeiterklasse gehören (es ist unerhört teuer!). Das Eton College bietet unter anderem die Möglichkeit, dass sich die Schüler in den „cadet corps“ militärisch ausbilden lassen können. Dieses Angebot erwies sich immer wieder als beliebt. & darauf basiert auch der feurige Song von The Jam, in welchem es zu Auseinandersetzungen mit den cadet corps heißt: „What chance have you got against a tie and a crest?“.

Braucht eins für den Genuss von „The Eton Rifles“ zu viel Hintergrundwissen als nichtenglischer Mensch? Ist es einfacher, sich dem vagen Schlag von „Another Brick In The Wall, Part Two“ hinzugeben? Jeder entscheide selber darüber.

Auf jeden Fall ist es Waters‘ Schwarz-Weiß-Bild, das heute noch das Denken dominiert. Er schrieb in den 1970er eine Kritik an Großbritanniens Schulsystem der 1950er & in den Jahren ab 2020 denken viele Menschen: „We don’t need no thought control“. Wir brauchen den Bill-Gates-Chip nicht in unseren Köpfen. Ob das Querdenken heutiger Zeit wirklich etwas mit diesem Pink-Floyd-Song zu tun hat? Wenn eins bedenkt, wie oft diese Platte (über 30 Millionen Exemplare), die Single (über 4 Millionen Exemplare) verkauft wurden, wie oft sie damals auch in deutschen Radiosendern gespielt wurde, wie oft sie via Compilations immer wieder & wieder neu in den Handel gebracht wurde, wie einfach sie heute durch Streamingdienste abrufbar ist, & dabei gerade meine Generation der heute ca. Ü45 direkt anspricht, die auch in den Querdenkerkreisen sehr prominent auftaucht, dann gibt es hier schon eine gewisse Plausibilität. Auf jeden Fall hat Roger Waters einen Text verfasst, der als Kritik ge- wie auch missbraucht werden kann.

Ich kann noch hinzufügen, dass im unbekannteren Stück „The happiest days of our lives“ der Text leicht differenzierter auf das grundsätzliche Problem der Lehrperson eingegangen wird, doch dazu benötigt eins die LP:

„when we grew up and went to school

There were certain teachers who would hurt the children in any way they could

By pouring their derision upon anything we did

Exposing every weakness however carefully hidden by the kid”

Das sagt mehr aus, als dass wir keine Gedankenkontrolle brauchen.

Im zweiten Akt wird zum einen erstmals das Gefühl der Isolation verstärkt, doch erweitere ich auch die kritische Palette hier um das dominiernde Thema der Misogynie. In „Young Lust“ sucht der Protagonist Pink, der als Musiker auf Tournee ist, sexuelle Kontakte mit einem „dirty woman, dirty girl“. Zum Ende hören wir jedoch Pinks Versuch die entfernte Partnerperson telefonisch zu kontaktieren. Es meldet sich eine männliche Stimme & legt auf. Diese – Achtung Sarkasmus – üble, untreuebehaftete Untat gegenüber dem armen Pink, der daraufhin weiter in die Isolation treibt & in „One of my turns“ eine weitere Sexualpartnerin in sein Apartment bringt, um diese in heftigster Art zu terrorisieren, während er die Wohnung zerstört. Nein. Roger, nein. In meinem Kopf singt es „We don’t need no patriarchal control“. Unter anderem. Der zweite Akt ist von vielem Kopfschütteln begleitet. Wären die sexuellen Untertöne dieser Vinyl-Seite nicht so stark, eins könnte den Incel-Alarm ausrufen. Pure Misogynie. Pures Hasstheater. Um noch einmal zu „Young Lust“ zurückzukehren: So viel Objektifizierung weiblicher Personen konnte eines noch selten hören.

Auszug aus der Verfilmung ein Bild während „One of my turns“. Zuvor ist ein Fernseher durch dieses Fenster geflogen. Bob Geldof spielte Pink in der Verfilmung.

Doch dabei bleibt es nicht. Gerade im Bereich der Rockmusik gibt es unendlich viel Gewalt von männlichen Musikern gegen ihre Partnerpersonen, meist weiblich. Hierbei geht es auch meist um häusliche Gewalt. Wenn eins dazu explizit forschen würde, könnte eins eine erschütternde Wall of Shame bauen. Insofern ist „One of my turns“, obwohl im Szenario keine direkte Gewalt gegen die anwesende Person ausgeübt wird, ein grausiges Dokument. & das folgende „Don’t leave me now“ nicht weniger. Hier wird das übliche, postgewalttätige Gejammer eines Täters mit den übrig gebliebenen Phantasien gemischt. Ein kurzes Beispiel:

„How could you go?
When you know how I need you

To beat to a pulp on a Saturday night.”

Da ich den Rest dieser Show schon kenne, kann ich natürlich vorwarnen: Es ist noch nicht das Ende der Straße erreicht. & hier wird erneut auch die eine Frage vom Anfang wieder wichtig: Wie geht die konsumierende Person mit diesem Werk um. Welche Fragen wirft es im Kopf dieser Person auf? Inwieweit kommt es gar zu einer Identifizierung mit dem Protagonisten Pink?

Im dritten Akt lautet das übergeordnete Thema: Einsamkeit, Isolation. Das Konzept der Mauer, welche der Prota Pink um sich herum errichtet, um sich vor Verletzung, vor Gefühlen zu schützen, ist vollendet. Zusätzlich erscheinen Drogenreferenzen: „I’ve got a silver spoon on a chain“ in „Nobody home“. Es taucht auch der Druck der Außenwelt auf, der in „Comfortably numb“ die verriegelte Tür zu Pink aufbricht & diesen „handlungsfähig“ spritzt.

Pink vor der Spritze des Doktors in „Comfortably numb“ in der Verfilmung

Um jetzt ganz persönlich, subjektiv zu werden, waren es diese Songs, die mich am nachhaltigsten schon in der Anfangszeit unserer Bekanntschaft beeindruckten, einhegten & mir ein Zuhause boten. Getrennt vom Konzept, das Pink auch durch eigenes Handeln in die Isolation bringt, wird das Gefühl des abgeschlossen seins von aller anderen Existenz ein sehr gut betrachtetes Heim gebaut. Hier erreicht Waters auch eine lyrische Tiefe, die nicht mehr vage ist & eine Situation beschreibt, die eine erstaunliche Dichte & Dunkelheit erreicht. Es ist nicht von ungefähr, dass in der späteren Verfilmung von Alan Parker (1982), diese Passagen im Inneren schmerzen. Tränen auslösen. Der Wille zum Drogenkonsum auch als lebensverkürzende Maßnahme erschien mir gerade in der jungen Bekanntschaft mit „The Wall“ als besonders reizvoll (siehe hierzu: https://camphansen.wordpress.com/2022/11/19/warum-fuhle-ich-mich-ungewollt-warum-bleibt-der-aspekt-eines-suizids-so-wichtig-in-meinem-leben-warum-will-ich-verschwinden/). Das finale Gitarrensolo von David Gilmour in „Comfortably numb“ hat die Wirkung einer Katharsis.

Jedoch nicht für Pink. Mit dem Song „In the flesh“ erreichen wir das Herz der Finsternis. Lassen wir den Text sprechen:

„I’ve got some bad news for you, sunshine

Pink isn’t well, he stayed back at the hotel”

Dieses Bild aus der Verfilmung zu dem Song „Waiting for the worms“ braucht keine Beschreibung.

Es erscheint eine halluzinierte, alptraumhafte Version des Protagonisten im Nazi-Verschnitt.

„We’re gonna find out, where you fans really stand”

Das Publikum wird untersucht, ob queere, BIPOC, jüdische Menschen darunter sind. Jointraucher und Menschen mit Pickel werden ebenso herausgegriffen.

„If I had my way, I’d have all of them shot!”

Die hier schon wachsende, aggressive Gewalt wird in „Run like hell“ dann explizit. Die militaristisch gekleideten „Hammers“ sind im Film schon im vorigen Stück als Begleitung des führenden „Pink“ zu sehen. Nun verwüsten sie gewaltvoll die Wohnungen, Häuser nicht genuin englisch wirkender Familien. Ein Pärchen, er schwarz, sie weiß, wird von ihnen in einem Fahrzeug erwischt.

„And if you’re taking your girlfriend out tonight

You better park the car well out of sight

‘cause if they catch you in the back seat trying to pick her looks

They’re gonna send you back to mother in a cardboard box

You better run!”

Der ultimative Höhepunkt dieses Theater des Grauens folgt in „Waiting for the worms“. Hier unterlasse ich Textauszüge, denn im Laufe des Stückes werden die Holocaust-Referenzen zu offensichtlich. Wenn wir die Worte alleinstehend lesen, ist es purer Ekel, der sich über die Vernichtungsphantasien des „Pink“ regt. Hier möchte ich kurz festhalten: Niemensch muss diese Platte hören. Jeder hat aber durchaus das Recht dazu.

Bevor ich nun diesen Teil näher betrachte, ein kurzer Blick auf die restlichen Songs: Pink unterwirft sich, als er wieder zu sich kommt, einem musikalischen Gerichtsverfahren, das in dazu verurteilt „to tear down the wall!“, nachdem er im Moment der vorangegangenen Erkenntnis seiner Aggressionen menschliche Gefühle offenbarte. Die LP endet mit den gesprochenen Worten „Isn’t this where…“. Wenn eins die LP beginnt, hört eins kurz „…we came in?“

Das Herz der Finsternis. Die Hammers. Der faschistische Diktator Pink.

Warum?

Das ist eine große Frage. Da es allerdings existiert, frage ich eher: Warum nicht ignorieren? Nein. Verkaufszahlen in physischen Tonträgern über 30 Millionen Exemplare… Da ist es für die Ignoranz schon etwas zu spät. Außerdem plagen mich die Fragen, die ich hier stelle, schon seit Jahren.

Wir haben es mit einer Rockband zu tun, die mit weißen Menschen besetzt ist. Wir können davon ausgehen, dass kein Mitglied von Pink Floyd jemals mit Rassismus konfrontiert wurde. Allerdings geben sie auch keine Opferrolle vor. Der Protagonist Pink kniet sich mit aller Macht in die allumfassende Aufgabe als Täter hinein. Die Uniform, die er in der Verfilmung trägt, ist eine zweite Haut. Es gibt hier kein Vertun, keinen minimalen Anschein, dass es nicht eine Erfüllung sei.

Warum ist es Roger Waters so wichtig gewesen mit dieser Darstellung? Ich habe eine Aufzeichnung eines Radiointerviews in der „Friday Rock Show“ aus der Zeit der Veröffentlichung der LP gefunden, in welcher Waters mitteilt, dass Pink aufgrund der massiven Isolation, welcher er sich unterzog, diesen Schritt macht. In anderen Interpretationen Dritter wird das erweitert formuliert, dass Pink den Schmerz, den er empfangen hat von verschiedenen Menschen, Institutionen, nun spiegelt gegen die Schwächeren, an deren Stelle er sich zuvor sah. Das ist eine gefährliche Meinung, denn zum einen relativiert sie die Taten von Rassisten. Gleichzeitig, wenn wir den Fall Pink betrachten, können wir durchaus von psychischer Beeinträchtigung seines Zustands vor der Verwandlung sprechen. So kann ein Generalverdacht entstehen, dass psychisch kranke Menschen nur einen Schritt von Gewalttaten entfernt sind. Gerade das ab 2018 novellierte Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (ja, so lautet der offizielle Begriff) enthielt in seiner ersten Fassung die Führung einer Unterbringungskartei und im Nachgang Meldung an Polizeidienststellen, wenn für einen Mensch die Entlassung bevorsteht. In der zweiten Fassung wurde daraus eine anonymisierte Meldung. Es existiert jedoch weiterhin die Übermittlung einer Gefährdungseinschätzung an Polizei & Kreisverwaltungen. 

Vielleicht lag es jedoch an der damaligen Gegenwart, die Waters beeinflusste. Der Faschismus hat in England leider auch eine lange Geschichte. In den frühen 1920er entstanden auch in Großbritannien die ersten, noch kleineren faschistischen Gruppierungen, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern: Italien, das mit dem Erfolg Mussolinis eine Blaupause für viele andere faschistische Organisationen bot. Deutschland. Irland in den 1930er Jahren. Portugal in Form einer Diktatur mit klerikal-faschistischen Zügen. Spanien.

Die einzelnen faschistischen Kleingruppen wurden 1932 von dem englischen Baronnet Oswald Mosley zur British Union of Fascists zusammengefasst & hatten teilweise massive Unterstützung aus der weiteren adligen Oberschicht, der die grundsätzlichen Aspekte des Antikommunismus, des Imperialismus, des Antisemitismus, des gottgegebenen Kolonialismus, der Ablehnung sozialer Reformen nichts Fremdes bot. Auch die Daily Mail wurde zum unterstützenden medialen Sprachrohr. Vor diesem Hintergrund ist sicherlich die grausige Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland, sowie die Zurückhaltung & reine Beobachtung im spanischen Bürgerkrieg zu verstehen. Große Teile der politischen & wirtschaftlichen Oberschicht Großbritanniens waren Hitler & Franco näher, als sie es nach 1945 noch zugestehen konnten. Zumal auch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs immer wieder rechte, rassistische Gruppierungen stärker wurden, z. B. nach den Notting Hill Riots 1958 & ab 1966 mit der Gründung der National Front Party. Es folgte 1968 Enoch Powells „Ströme von Blut“-Rede, die Gedankengut noch einen weiteren Schub gab. Obwohl die National Front Party in den folgenden Parlamentswahlen nie mehr als einen Prozent an Stimmen kamen, verstärkte sich der Rassismus immer stärker in den konservativen Kreisen, gerade befeuert durch weitere Einwanderungswellen aus den Commonwealth-Staaten (ehemalig ausgebeutete Kolonien). Hinzuzufügen ist, das Enoch Powell ein meinungsstarker Politiker aus der konservativen Partei war. Die Wirtschaftskrisen der 1970er befeuerten ebenso die rassistische Stimmung & es kam immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen rechtsextremen & antifaschistischen Kräften, wie der „Battle of Lewisham“ am 13.08.1977, bei welcher 56 Verletzte gab, als insgesamt 4.000 Menschen aufeinandertrafen, dazu 5.000 Polizist_innen.

Oswald Mosley in Lieblingspose
Enoch Powell 1968 mit seinem Lieblingsbildhintergrund.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in Großbritannien bereits die Organisation „Rock against racism“ formiert. & an diesem Punkt kehre ich wieder zu Roger Waters & seinem Konzept von „The Wall“ zurück. Denn Waters mag in seiner Arbeit auch von zwei Künstlern beeinflusst worden sein, welche den „faschistischen Pink“ vorlebten. Einer indirekt, einer direkt & beide führten auch zur Gründung von „Rock against racism“.

David Bowie 1975. Ein Hauch von Koks formte diese Wangen.

Der indirekte Einfluss ist David Bowie, der in drei Interviews 1975/1976 unter anderem äußerte, das a) „Hitler was one of the first rock stars“, b) „I think, Britain could benefit from a fascist leader. After all, facism is really nationalism”, c) “You’ve got to have an extreme right front come up and sweep everything off its feet and tidy everything up. Then you can get a new form of liberalism”. Dazu folgte noch der “Victoria Station Incident” 1976. David Bowie kommt in einem Zug in der Station an, steigt in ein Mercedes Cabrio & winkt stehend in die Menge. Eine Fotographie, die der NME nutzt, erweckt den Anschein, dass Bowie den Arm zum Hitlergruß ausgestreckt hat. Der Photograph, Chalkie Davies, erklärt in seinem Blog 2016, dass Bowies Hand vom NME nachgezeichnet wurde. Bowie selber distanzierte sich nach seinem Umzug nach Berlin 1977 von den Äußerungen. Sein Drogenkonsum & die Lektüre okkulter Literatur & Nietzsche habe ihn zu diesen Gedanken verleitet.

Außerdem sagte er 1980: „[In Berlin] I was in a situation where I was meeting young people of my age whose fathers had actually been SS men, That was a good way to be woken up out of that particular dilemma… yeah, I came crashing down to earth when I got back to Europe.”

Trotzdem bleiben diese Äußerungen ein unverdaulicher Brocken für jede/n/s Bowie-Fan/girl/by.

Der direkte Einfluss wurde Eric Clapton, der am 05.08.1976 bei einem Konzert in Birmingham sichtbar angetrunken eine Rede hielt, die Roger Waters fast 1:1 für den Text zu „In the flesh“ übernehmen konnte.

Eric Clapton. Manchmal spielt er Gitarre.

Do we have any foreigners in the audience tonight? If so, please put up your hands. So where are you? Well wherever you all are, I think you should all just leave. Not just leave the hall, leave our country. I don’t want you here, in the room or in my country. Listen to me, man! I think we should vote for Enoch Powell. Enoch’s our man. I think Enoch’s right, I think we should send them all back. Stop Britain from becoming a black colony. Get the foreigners out. Get the wogs out. Get the coons out. Keep Britain white. I used to be into dope, now I’m into racism. It’s much heavier, man. Fucking wogs, man. Fucking Saudis taking over London. Bastard wogs. Britain is becoming overcrowded and Enoch will stop it and send them all back. The black wogs and coons and Arabs and fucking Jamaicans don’t belong here, we don’t want them here. This is England, this is a white country, we don’t want any black wogs and coons living here. We need to make clear to them they are not welcome. England is for white people, man. This is Great Britain, a white country, what is happening to us, for fuck’s sake? Throw the wogs out! Keep Britain white!

Nun.

Für einen betrunkenen Menschen ist diese Rede recht eloquent gewesen. Eine Aufnahme dieses rassistischen Rants ist u.a. in Eric Clapton: Life in 12 Bars zu sehen.

Da diese kleinen Dokumente zu Bowie und Clapton hier nicht weiter zu kommentieren sind, sie sprechen sehr klar für sich selbst, komme ich zu der abschließenden Frage:

Wie geht der konsumierende Mensch mit „The Wall“ & dem dort servierten Oeuvre um? Es ist nicht einfach, denn – hier spreche ich für mich selbst – die Masse an Eindrücken, die in „The Wall“ geboten werden, sind erst einmal völlig überwältigend. Eins muss sich wirklich mit diesem Album auseinandersetzen, um zu einer Einordnung zu gelangen. Ich schrieb bereits, dass eine Mauer in der Konzeption des Ganzen bereits um die Kunst herum gebaut ist. Viele der Songs sind eher fragmentarisch gehalten. Roger Waters selbst bezeichnete es 2011 als Rock Theater, sprich die konsumierende Person muss dem Fluss der Erzählung folgen & dieser versteckt sich hin & wieder, lässt die hörende Person alleine, auf das sie in Eigeninitiative den Faden wiederfindet. Hier ist die Verfilmung einerseits hilfreich, jedoch ist sie ein noch heftiger angefülltes Panoptikum vor allem an visueller Gewalt, gerade im letzten, faschistischen Viertel. Es ist kein Film für auch nur annähernd empfindsame Seelen.

Was „The Wall“ erreichen will: Die hörende Person soll bewegt werden. Sie soll so stark bewegt werden, dass Gleichgültigkeit aus ihr verschwindet. Sie will verstören, angreifen, den Menschen spiegeln, der die LP auflegt (oder andere Formate). Diese Platte wirft mit Steinen.

Erreicht sie ihr Ziel? Nein.

Das hauptsächliche Publikum von Pink Floyd ist weiß, männlich, inzwischen eher Ü45. Mir fiel bereits in meiner Anfangszeit als leichtes Floyd-Enthusiastli auf, dass – wir befinden uns im Jahr 1988, Floyd sind erstmals wieder auf Tour, jedoch ohne den ausgestiegenen Waters – vor allem die Show gefeiert wurde. Im Falle das darüber hinaus eine Meinung formuliert wurde: die Musik ist toll. Ja, & die Texte: (langes Schweigen)

Der Classic-Rock-Fan männlicher Prägung ist zu großen Teilen nicht an Texten interessiert. Es sei denn, sie sind einfach, einprägsam & schließen z.B. einen Unwillen zur Gedankenkontrolle ein. & spätestens mit dem Comeback ab 1987 siedelten sich Pink Floyd im eher unprogressiven Classic Rock ein. Das passt auch zur Musik, welche ab dem Zeitpunkt neu veröffentlicht wurde.

Nebenher empfinde ich es auch als problematisch, dass Pink Floyd ab 1988 bei Tourneen Stücke aus „The Wall“ abseits des Konzepts spielten, z.B. das gewaltvolle „Run like hell“. Es ist, als würde Peter Jackson eine Zusammenstellung der „Herr der Ringe“-Trilogie planen, in welcher nur die gewalttätigsten Passagen präsentiert werden. Es macht keinen Sinn, es verfälscht das Narrativ, indem es dieses negiert.

Zu der Frage, ob Künstler/in & das Werk trennbar sind, ist dies ein schwieriger Fall, denn Roger Waters gab in einem Interview in 2011 an, dass The Wall zu 60% autobiographisch sei. Er ist also – wenn wir bedenken, wie unerhört negativ das gesamte Werk ist – sehr ehrlich mit uns Konsumierenden. Das mag bedenklich sein, aber sollte uns auch einen Spiegel vorhalten. Der Satz „Ich bin Roger Waters“ könnte uns bei wahrhaftiger Betrachtung öfter in den Sinn kommen, als uns lieb sein mag.

Falls Sie also dieses Doppelalbum je in der Zukunft zu hören gedenken: hören Sie bitte auch zu.

Danke.

Warum fühle ich mich ungewollt? Warum bleibt der Aspekt eines Suizids so wichtig in meinem Leben? Warum will ich verschwinden?

CN Suizid Depression Angst Autismus Hoffnung

Ich stehe an einem Abgrund. Immer wieder. Wenn ich an diesen Punkt gelange, ist der Weg, den ich gekommen bin, im Dunkel verschwunden. Weit vor mir glimmt ein tief rotes Licht am Horizont. Es ist nicht die Hoffnung, es ist der Tod, der dieses Licht sendet. Es ist das Feuer, das mich & meine Existenz komplett auslöschen wird. Das Wort Auslöschung gibt mir die Hand, während ich dort stehe. Ich möchte endlich erreichen, dass kein Wind mehr meinen Namen ruft, kein Schmetterling mehr an mir vorüber fliegen muss. Mein Leben erscheint mir in diesem Moment als Versagen. Wie ich als Kind versagt habe, wenn mir jemensch etwas erklärte & ich es kaum einmal im ersten Versuch schaffte, den Auftrag umzusetzen. Ich bekam das Gefühl, zu viel zu sein. Doch auch zu unsichtbar. Ich möchte weinen. Ich kann nicht mehr weinen. Die Tränen sind in mir verdampft auf dem Weg zu diesem Abgrund.

Immer wieder führt der Weg mich hierher. Ich erinnere mich an das Kinderzimmer, in welchem ich zum ersten Mal dachte: „Warum lebe ich eigentlich?“ Ich habe so oft keine Antwort auf diese Frage. Oft nach Nächten voller Alpträume, in denen mich Personen aus meiner Vergangenheit bis aufs Blut quälen. Meine Schutzlosigkeit in diesen Träumen perfide ausnutzen. Es gibt Menschen, allein deren Blick mich in den Nächten erfrieren lässt. Diese Erstarrung lässt auch nach dem Ende der Nacht noch lange nicht nach.

Ich frage mich, wo der damalige erste Wunsch nach dem Tod herkam. Außerhalb der Wände des Hauses, in welchem ich ein denkender Mensch wurde, empfand ich keine Liebe aus der Welt. Sie war entweder gut versteckt oder sie erreichte mich nicht durch die Mauern, die sich inzwischen gebildet hatten. Die Worte, die ich von Nick Cave Jahre später hören sollte: „so I go shuffling out of life, just to hide in death a while“ hätte ich damals schon schreiben können. In dem Wissen, dass es nicht bei „a while“ bleiben würde, doch das ist auch von Nick Cave mit schmerzender Ironie gesetzt worden. Der Tod, mein Tod ist zu einem Fluchtpunkt geworden, an den ich mich immer wieder zurückziehe, wenn das Leben schmerzhafter wird, als verkraftbar. Es geschieht zu oft. Dabei ist mir auch oft unklar, warum ich verletzt bin, wenn Dinge geschehen. Etwas tief in meinem Inneren lenkt, ohne mich zu informieren.

Ich verstehe Menschen nicht. Ich kann mit verschiedenen Menschengruppen überhaupt nichts anfangen. Vor allem sogenannten Paaren. Die nach Außen hin sichtbare Verschmelzung meist zweier Menschen hat auf mich eine Wirkung, als fasse ich Giftefeu an. Das hat durchaus mit meiner grausigen Ambivalenz zu tun, berührt zu werden. Etwas in mir schreit danach, berührt, gar geliebt zu werden. Die andere Seite will alle Gefühle, alles Menschliche in lodernden Flammen aufgehen lassen. In der Mitte stehe ich & hangele mich von einem verzweifelten Moment zu nächsten, denn die eine, zärtliche Seite gewinnt nie so sehr, dass mir eine Berührung zu teil würde, die so heilsam wäre, dass mein destruktives Ich auch nur für kurze Zeit verstummen würde.  

Als ich ca. 17 Jahre alt war, wuchs ein unfassbar großes Verlangen nach Drogen. Besonders halluzigene Stoffe oder gerne auch dauerhaft tödliche. Das potentielle Wohlgefühl, das sich zunächst einstellt, gepaart mit der massiven Verkürzung der Lebensdauer erschien mir wie ein wundervolles Versprechen. Das Problem des Ganzen war die Provinz, in der ich lebte & die notwendige Kontaktaufnahme mit anderen, mir zunächst unbekannten Menschen. Ich blieb letztlich so lange clean, bis sich diese Phase abgemildert hatte.

Ich verstehe Menschen nicht. Weiterhin. Ich verstehe nicht, was sie dazu bewegt, mit mir in Kontakt zu treten. Ich bin so schwach, so leicht verletzlich, keine große Stütze für dich. Eher ein Klotz am Bein, als Flügel. Ich weiß, dass da draußen einige Menschen sind, die mich mögen, & von Zeit zu Zeit kommen diese Gefühle auch in mir an, aber an den dunklen Tagen bin ich undurchdringliches Gestein, gemeißelt von meiner dunklen, destruktiven Seite.

Ich schreibe dies & komme mir vor, als schriebe ich einen Abschiedsbrief. Ich wünschte es wäre so & ich könnte mich von dem hasserfüllten Kind in mir, das schreit & tobt & wütet & alle Welt zur Hölle wünscht befreien. Aber dieses Kind lebt nicht umsonst in mir. Es wurde von außen geformt.

Seitdem ich weiß, dass ich atypisch autistisch bin, zusätzlich zu dem schon nicht einfachen Weg eine trans Person zu sein, ist mir endgültig klar, dass ich über Jahrzehnte ein völlig falsches Leben geführt habe & dabei über alle Massen unsafe war. Letztlich habe ich mich viel zu lange selbst verleugnet. Ich habe meine Existenz wie Schmutz behandelt. Ja, ich wusste es nicht besser, habe allerdings auch lange gefürchtet tiefer in mich hineinzuhorchen. Es kann niemanden wundern, dass ich ein sehr miserables Selbstwertgefühl habe. Um überhaupt zu überleben, musste ich mich einen sehr großen Teil meines Lebens maskieren. Teilweise gelang mir das Schauspielern gut, doch blieben diese Phasen begrenzt & endeten meist in tief depressiven Abstürzen. Dann hatte das deformierte Kind in mir gewonnen. Dann hatte es mir die Maske vom Gesicht gerissen. Hatte es nicht ein absolutes Recht dazu? Dieses wütende Ich war genauso ein wahrer Teil meiner Selbst, wie die andere Seite. Wenn ich es irgendwann schaffe, dieser Seite mit Akzeptanz zu begegnen, hoffe ich, dass auch die Ausflüge an den Abgrund seltener werden.

Sex. Sex. Sex.

Am gestrigen Tag stolperte ich über eine Twitter-Umfrage: „Was würdet ihr für den Rest eures Lebens behalten wollen? Das andere fällt of course weg“. Die beiden zu haltenden Varianten waren: 1 – Sex. 2. – eine Milliarde pro Jahr“.

Ich wählte keines. Retweete mit dem Text: „Vertrauen in und von lieben Menschen“.

Dennoch hatte ich natürlich eine Wahl zwischen den beiden Varianten der Umfrage getroffen. Geld in dieser Menge ist unerträglich. Bleibt der Sex. Beides ist nicht auf meiner expliziten Wishlist, doch steht Sex letztlich höher, als widersinniger Reichtum. & nein! Die Frage, was eins mit so viel Geld alles tun könnte, verbitte ich nachhaltig. Es bliebe nichts anderes damit zu tun, als es wieder auf Menschen zu verteilen, die des Geldes dringend bedürfen.

Für mich hat sich der Zugang zu Sex in den letzten Jahren verändert. War ich die meiste Zeit meines Lebens ein williges Werkzeug, das sich eins nur schnappen musste, um es zu nutzen, ist diese Phase nun vorbei. Wenn Sex, dann selbstbestimmt. Aber wie funktioniert das? Was musste sich ändern?

Ich musste mich ändern. Ich musste einen Zugang zu meinem Körper finden. Hier leistete mein trans sein schon hilfreich Vorschub, doch war dies nicht alles. Wie bewege ich mich in der Welt? Geduckt oder aufrecht? Doch auch dies ist nur ein Mosaikstück, auch wenn hier bereits angedeutet zu fühlen ist, dass es hilft, wenn eins seinen ganzen Körper annimmt, ihn mit Leben füllt, ihm jeden einzelnen Atemzug schenkt.

Das ist eine große Herausforderung. Ein letztlich fast nicht erreichbares Ziel. Viele Faktoren stehen im Weg. In meinem Fall hauptsächlich die mentalen, psychischen Stromschnellen, die immer wieder zu einem enormen Problem auf dem Pfad der Annahme des Körpers wurden. Von der reinen Körperdysphorie einmal ganz abgesehen. Diese führte letztlich dazu, dass ich lange Zeit des Lebens wie ein Schauspielendes durch dieses Leben geisterte, was sich dann auf das Sexleben auswirkte (siehe oben: nimm mich aus dem Regal & gebrauche mich).

Wo beginnt Sex für mich heute? Sex ist grundsätzlich ein körperliches Übergreifen, daher ist gegenseitiger Konsens hier noch wichtiger, als im restlichen Leben. Wenn dies fehlt: Stopp!

Im Falle von Konsens ist das Übergreifen von der anderen Seite gewollt. Ja, ich möchte in dieser Situation berührt werden. Du möchtest dann von mir berührt werden. Wo wir uns berühren, sprechen wir miteinander ab. Wir äußern unsere Wünsche. Wir hören zu. Wir genießen die Kommunikation, denn sie ist Teil unserer Lust, die unsere Körper schwämmt. Die Kommunikation kann in Gesten erfolgen, aber sie müssen eindeutig sein. Eindeutig muss auch der Konsens während des Sex gewahrt bleiben. Ein „Nein“ darf niemals übergangen werden.

Mit welchen Menschen möchte ich Sex haben? Mit Menschen, die mir nahe bis sehr nahestehen? Mit mir fremden Personen? Männer, Frauen, nichtbinäre Menschen? Die letzte Frage ist am einfachsten zu beantworten: es ist mir egal.

Grundsätzlich gilt: mit wem ich Sex habe, ist zunächst alleine meine Entscheidung. Vor allem möchte ich auch festhalten, dass ich keine Exklusivität mehr vergeben will & genauso wenig exklusiv von einer einzigen Partnerperson „besessen“ werde. Bullshit! Wer sein Leben so führt, soll das gerne tun.

Ich sehe Sex als von Beziehungen getrenntes Geschehen. Ich weiß, dass ich damit enorme Unterhaltungsindustrien in ihrem Tun negiere, aber das „Boy-meets-Girl“-Getue langweilt mich nur noch, wenn es einfach als Schema verwendet wird. Vor allem finde ich darin als nicht binäre Person nicht statt. Boring!

Warum wird Sex nicht einfach als eine Form von self care angesehen? Etwas, das eins für sich tut, mit einer anderen Person, mit der eins den Consent findet. Aber klar, wir bewegen uns damit sehr schnell auch gegen generelle Konventionen, die in einen imaginären, patriarchalischen Gesellschaftsvertrag geschrieben sind. & wenn ich noch das Wort Sex Work mit hineinbringe, werden etliche Menschen innerlich zu kochen beginnen. Die Hitze prallt an mir ab.

Was bleibt am Ende zu sagen? Ich will meinen Körper wahrhaftig erfüllen & selbstbestimmt mit ihm durch dieses Leben gehen. Zusätzlich: Sex ist nicht nur Penetration. Sex ist ein Kosmos an vielen Spielarten. Es gilt darüber zu kommunizieren. Da fängt der Sex an.

Geduld Teil 1

CN Intimität Berührungen

this story is presented by the Stempelfrosch.
this story is presented by The Stempelfrosch.“

Das Titelthema ist ein so großes, dass ein kleiner Blogeintrag dem nie gerecht werden kann.  Deswegen setze ich zum einen „Teil 1“ hinter den Titel, um mir die Freiheit zu weiteren Äußerungen zu geben & ich mache nur die Lampe hinter dem Sofa an, so dass eine angenehme Atmosphäre entsteht. Ich setze mich dir gegenüber.

„Was hast Du vor, Isa?“, fragst Du.

Ich leiste mir ein Grinsen, überschlage meine Beine & rücke damit ein kleines Stückchen von Dir weg.

„Was hältst Du von Sex?“, frage ich zurück & versuche unbeteiligt auszusehen. Du kicherst & deine rechte Hand fährt vor deinen Mund.

„Es war ein Scherz! Oder nicht? Lass uns mal darüber reden, wie viel Vertrauen ineinander wir brauchen, um Sex haben zu können. Das meine ich jetzt wirklich ernst.“ Ich lege den Kopf schief & sehe dich an. Deine Augen sind weit geöffnet. Ich nehme die große, kuschelige Decke, & lege sie um meine Schultern & lasse sie nach vorne bis zu deinem rechten Knie weiterfahren. Du siehst meine lächelnden Augen, wir haben unsere Blicke miteinander verwoben. Du ziehst die Decke näher zu dir.

„Was hast du vor?“

„Ich weiß es nicht. Lassen wir uns voneinander führen? Lassen wir uns von unserem Einvernehmen führen?“

„Also, soll ich Dich fragen, ob Du willst, dass ich etwas tue?“

„Ja. Oder Gedanken äußern… was Dir durch den Kopf geht.“

Du nestelst etwas an Deinem Pulli, wirkst etwas durcheinander. Ich streichle kurz über Deine Hand, fange wieder Deinen Blick ein.

„Nun sag schon, ich sehe da diesen Gedanken in Deinem schönen Kopf. Lass ihn raus, teile ihn mit mir.“

Du grinst.

„Ja, Isa, normalerweise kenne ich das meistens, dass wenn eins sagt, lass uns Sex haben, dass dann erstmal gar nicht gesprochen wird. & da hat nie jemand vorher etwas von Vertrauen gesagt.“

„Tja, bei mir ist schon anders. Ich will erst einmal reden, das ist für mich ein ganz, ganz wichtiges Vorspiel. & ich hoffe, dass bei dem Sex vorher das Vertrauen besprochen oder halt einfach da war.“

„Ich denke schon.“

„Oh fuck! Ich weiß, ich darf da keinen Vorwurf machen, weil ich früher genauso sprachlos war. Aber versprich mir, dass du nie wieder Sex mit irgendjemandem haben wirst, dem du nicht komplett vertraust?“

Du schaust mich von unten herauf an.

„Ja. Mindestens so viel, wie ich dir jetzt vertraue.“

Wir beide müssen grinsen.

„Darf ich zu dir unter die Decke?“

„Du bist ganz schön offensiv!“

Du rückst näher zu mir & ich schlinge die Decke um unsere Rückenpartien herum. Mit Deinen Lippen gefährlich nahe an meinem rechten Ohr flüsterst Du:

„Noch lange nicht offensiv genug.“

Es schüttelt mich, du lachst.

„Das war sehr, sehr offensiv & ich vertraue dir, dass du diese Grenze jetzt nicht gleich im Sturm niedermähen wirst, aber du musst mir Zeit lassen, damit ich mich darauf einstellen lassen kann.“

„Oh.“

Du legst dein Kinn auf meine Schulter, ich spüre deinen Atem.  Du hast heute würziges Essen gehabt. Du hast seit heute Mittag früh nicht geduscht, doch ich mag es, wie du riechst. Ich mag es, wenn Du mir so nah bist, dass ich Dich schnuppern kann. Verböte man Duschgel, Deodorants & Parfüms für Dich, würde ich in aller Heimlichkeit leise jubeln.

„Alles ist gut.“

Meine Hand lege ich um Deinen Kopf.

„Alles ist gut. Du weißt doch, dass ich ein langsamer Mensch bin.“

„Ja, aber…“

„Pssscht. Kannst Du Geduld?“

„Isa! Wieso Geduld? Sex?“

Wir kichern schon wieder. Es ist wundervoll. Meine Wange streicht an Deiner entlang, worauf Du es irgendwie schaffst, mir einen Kuss darauf zu hauchen.

„Ach, Du! Ja, Geduld, ich meine das schon ein bisschen ernst, aber es bleibt alles okay. Weißt Du, es geht nicht darum, wie sehr wir uns vielleicht in diesem Moment oder irgendwann in der Zukunft lieben werden. Es geht darum, wie wir mit unseren Grenzen klarkommen, gegenseitig vor allem. & darum, ob wir uns Vertrauen schenken können, wenn wir nicht in der Nähe des anderen sind. Ob wir uns Vertrauen schenken können, wenn wir wissen, dass die andere Person jemand drittes nahe ist.“

„Oh, oh ja. Ich hatte schon ganz vergessen, weißt Du?“

„Jetzt vergisst Du es einfach,“ kicherte ich, „& beim nächsten Öffnen von OKCupid?“

„Ach, Isa, Du ahnst wohl nicht, wie viel Wärme Du mir bringst. Darf ich Dir einen Kuss geben?“

Du schlingst Deine Arme um meinen Hals, kommst mit Deinem Kopf sehr nahe an mein Gesicht.

„Das ist sehr lieb, dass Du fragst. Wie könnte ich je dazu nein sagen? Ich will Dich schon seit Minuten, Stunden, Tagen küssen. Ich will Dich küssen seit ich von Dir weiß. Ich will Dich küssen, seit ich mir bewusst bin, dass meine Lippen dazu geschaffen sind, Dich zu küssen.“

„Oh mein Gott! Wie kann ein Mensch nur so süß sein?“, & schon spüre ich einen Hauch Deiner Lippen an den meinen. Es bleibt ein Hauch, es bleibt eine zitternde Fast-Berührung. Es bleibt eine stete Sammlung von Spannung, die sich für ungezählte Momente nicht entladen wird. Ich möchte niemals aus diesen Momenten scheiden. Meine Finger krallen sich in Deine Oberarme.

„Wo hast Du so zu küssen gelernt?“, japse ich, nachdem ich mich doch losreißen konnte. Ich sehe Dich an in einer Mischung aus Faszination, Liebe, Angst & völliger Entgeisterung. Ich möchte Dich sofort wieder auf diese Art küssen, niemals damit aufhören. Derweil blicken wir uns in unsere Augen, halten uns immer noch fast krampfhaft fest. Ein Schauer fährt über meine Haut. Die Augen werden an den Rändern leicht feucht. Ja, es kullern Tränen über meine Wangen. Jetzt vergrabe ich meinen Kopf an Deiner Schulter, an Deiner Brust. Dein T-Shirt wird feucht, ich spüre es.

„Hey, Isa, ist alles in Ordnung?“, während Du meinen Kopf sanft anhebst & unsere Blicke ein weiteres Mal im Feuer miteinander tanzen. „Ich vertraue Dir.“ Ich greife nach einer weiteren Decke, die ich über unsere Köpfe ziehe, um in einer von schwächlich bläulichen Farben beschienenen Intimität dich nach einem weiteren, intensiveren Kuss zu fragen.

A Season In Hell

TW: Depression Suizid Darstellung psychotischer Attacken Selbstverletzendes Verhalten

(Ja, Lächeln kann eine unter Depressionen leidende Person auch. Hier April 2011)

Mir ging es schon längere Zeit nicht wirklich gut. Einen ersten Versuch mit Antidepressiva hatte ich im Herbst 2010 beendet. Damit einhergehend auch das Ende der Zusammenarbeit mit einem Psychologen, der diese Bezeichnung nicht verdient. Meine Wahrnehmung klarte auf. Das Gefühl hinter Milchglas zu leben, endete. Die Schmerzgrenze sank jedoch. Im Februar 2011 begann ich zum einen eine Zusammenarbeit mit einer Psychotherapeutin, die mir innerhalb der kommenden zweieinhalb Jahre half, als Person nicht komplett zu zerfallen. Als ich mich mir gegenüber als trans outete, endete unsere gemeinsame Zeit, da ich etwas zu euphorisch meinte, jetzt sei das Thema meines Lebens ja bekannt, eingegrenzt & von mir alleine zu bearbeiten. Tja, Isa, so einfach ist das nicht.

In jenem Monat spitzte sich jedoch auch der Nachbarschaftsstreit mit F weiter zu. Es kam ein erstes Anwaltsschreiben. In meinem Job waren Arbeitszeiten von ca. 6.30 bis 17/18 Uhr der Regelfall. An einem Samstagnachmittag war ich alleine zu Hause. Ich weiß nicht, wie viele Häuser entfernt man noch meine Schmerzensschreie hören konnte. Wie oft kann eins den Kopf gegen den Boden, gegen Wände schlagen? Sehr oft. Aber schlimmer war der nicht-körperliche Schmerz. Schlimmer war das Feuer, das ich in mir spürte, das rot glühte, wenn ich die Augen schloss. Dieser unerträgliche Hass gegen mich, gegen meine Verzagtheit, gegen meine Existenz. Ich war ein am Boden wimmerndes Bündel an Hass. Es blieb nicht bei einem Samstagnachmittag im Februar, an dem diese Form von Zusammenbruch geschah.

Die Therapeutin fragte mich, ob ich Tabletten nehmen würde? Ich verneinte & war nicht traurig, dass sie mir eine neue Sorte verschrieb, die dann auch eine kurzfristige Verbesserung mit sich brachte. Immerhin konnte ich keinen Ausfall gebrauchen. Es durfte überhaupt nichts schief gehen in meinem Leben. Das Haus hatten wir vor vier Jahren bezogen. K1 war drei Jahre alt, K2 unterwegs. Das Familienauto war am ältesten & für die Bedienung der Gangschaltung war Feingefühl gefragt. Wir hatten keine Rechtschutzversicherung & als ich darüber mit dem familiären Berater sprach, winkte dieser ab: nach dem ersten Kontakt mit dem Anwalt der Gegenseite würde eine neu abgeschlossene Versicherung nicht mehr greifen. Der Februar endete.

Im Job stieg der Stressfaktor. Nirgendwo schien der Gedanke aufzutauchen, dass eins Hilfe brauchen könnte. Kompetente Hilfe bei der Bewältigung der Arbeit. Doch ich sagte nichts. Ich sagte auch nie „Nein.“ Das Wort existierte in diesem Körper nicht. Welche positiven Konsequenzen konnte es schon haben, wenn ich irgendwo mich verweigerte. Es musste weitergehen. Immer einen Hauch kurzatmiger, doch musste es weitergehen. At any given cost.

Wer diesen einen neuen Kunden überhaupt ins Spiel gebracht hatte, weiß ich beim besten Willen nicht mehr, aber ich rief ihn an & konnte überrascht feststellen, dass dieser ein ganz anderes Bild von unserem Sortiment hatte, als ich & vor allem größer. Nun, das Wort „Nein“ existierte nicht. Ich machte mich in all dem Trubel an die Erfüllung der Wünsche & versuchte zu liefern. Längst war ich in einer kriegerischen Schlacht gelandet, in welcher von jeder erdenklichen Seite auf mich geschossen wurde. Es war permanent dunkel. Es war permanenter Druck. Ich ging geduckter in jedem Moment. Die Buchhaltung wollte erledigt sein, der Jahresabschluss wollte erledigt sein, ständig grätschten Großhandelskunden mit Anfragen & die Lieferanten von der anderen Seite mit Wehwehchen in die Arbeit hinein, wollten auch die Mitarbeiter*innen arbeitstechnische, oder auch gerne privatere Probleme abliefern, denn ich war die perfekte Ansprechstation. Die Zeit lief mir davon. Die Brust wurde enger.

Wie ich überhaupt es an diesen Ort geschafft hatte, ist mir heute völlig schleierhaft. Nun, es gibt eine einfache Erklärung: der Mensch gewöhnt sich an den langsam, aber stetig steigenden Druck & vor allem fürchtete ich den Moment, an dem ich dieses Spiel nicht mehr weiterführen konnte, denn die Bezirke meines Mordors hatten die Nummern der Kredite, die für ein neugebautes Haus zu füttern waren.

Immerhin hatte ich es im November 2009 zu der Erkenntnis geschafft, dass ich unbedingt Hilfe bräuchte und diese sogar gesucht. Ich hatte Angst. Ich hatte eine ganz große Angst davor, zu zerfallen, zu erstarren, in der Wand zu verschwinden. Ich wusste, dass ein Suizidversuch nur eine Frage der Zeit war.

Am 29. März 2011 hatte ich einen Termin mit dem Neukunden vereinbart & machte mich mit meinem PKW auf den Weg. Ich verspätete mich. Ein Motorschaden, der mich nach einem Drittel der Strecke lahmlegte. Ich habe vergessen, was es genau war. 1.500,- Euro kostete es ungefähr. Geld, das ich nicht hatte. Geld, das letztlich aus dem erweiterten Dispo-Rahmen der Bank kam.

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich mich fühlte, als ich von meiner Mutter an der KFZ-Werkstatt abgeholt wurde. War noch Leben in mir? Schlug das Herz überhaupt noch? Die Therapeutin würde wenige Tage später beispielhaft das Schlagwort „Burn Out“ nennen. Nun, was immer eins von diesem Begriff hält, er trifft den Zustand relativ gut, denn mehr als ein Haufen Asche war nicht übrig von mir, was auch die Schwierigkeit des Beschreibens erklärt, denn hier war nichts mehr. Over and out.

Am folgenden Freitag hatte ich jenen Termin bei der Therapeutin. Wie ich die zeitliche Brücke überbrückt habe? Automatismus. Pures Funktionieren, denn Dinge mussten erledigt werden. Wer aufgepasst hat, der weiß, da war ein Monatswechsel zwischendurch, da wollten Menschen ihre Lohnabrechnung auf den Weg gebracht wissen. Eine Person als Vertretung? Gab es nicht. & wenn sie, wie einige Jahre zuvor mal aufgrund eines krankheitsbedingten Ausfalls benötigt wurde, erreichten mich Vorwürfe. Den Blick zurück kann ich auch nur ertragen, weil ich weiß, dass es so nie wieder werden wird, und weil ich weiß: ich schreibe es auf, um es zu bannen, es in ein abgeschlossenes Kapitel zu verpacken & damit endlich auch die Verarbeitung zu beginnen, die mir vielleicht in einer noch unbestimmten Zeit eine gewisse innere Freiheit zurückerstatten wird.

Es ist fürchterlich dunkel. Es ist so unerträglich kalt. Jeder Atemzug ist schmerzhaft. Ich blickte aus dem Fenster des Schlafzimmers. Die Therapeutin hat mich für drei Wochen krankgeschrieben. Ich habe keinen Blick für die Außenwelt. Ich bin tot. Nein, nicht tot genug. Tot. Nicht tot genug. Das Gänseblümchen der in einer akuten Krise steckenden depressiven Person. Tot. Nicht tot genug. Die Atemzüge. Wie sich die Tage dahinquälen, wie sich der Blick auf die Welt nicht wieder belebt. Draußen ändern sich Jahreszeiten, innen bleibt der frostigste Winter, der jede Gefühlsregung mit seiner knochigen Faust zerschmettern wird.

Es sind inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen. Ich habe wieder eine gewisse Kontrolle über mein Leben zurückgewonnen. Aber die Erinnerung an diese Phase meines Lebens (& es war nicht die einzige Treppe in den Keller) lässt einen spürbaren Eindruck im Jetzt. Ich kann damit umgehen, ja, ich will es beherrschen lernen & damit leben, um den Wellengang meiner Psyche auch besser steuern zu können. Damit es noch lange heißen wird:

Isa is alive and well and living in Paris.

Eugen Drewermann wünscht einigen Menschen ein gutes, neues Jahr.

Es war ein Zufall, dass ich mir die Neujahrsansprache 2022 von Eugen Drewermann, die in Lahnstein bei der Gesellschaft für Gesundheitsberatung GGB e.V. gehalten wurde, für etwas mehr als 30 von 98 Minuten angesehen und -gehört habe.  Die Rede trug den Titel „Aufeinander zugehen in Zeiten der Spaltung“.

Als ich – wie schon geschrieben – nach circa einem Drittel der Ansprache ausschaltete, war ich bedient. Ich war wütend. Ich habe den Kopf geschüttelt vor Ungläubigkeit, dass ein vermutlich weltgewandter Mensch, wie Eugen Drewermann, solch einen rhetorischen Unfall abliefern konnte.

Wer jetzt hier einwenden mag, dass im Laufe der Rede möglicherweise mein Unmut gemildert worden wäre, weil die negativen Aspekte ausgeräumt worden wären, dem mag ich entgegenhalten & gleichzeitig Herrn Drewermann einen Tipp geben: Es ist nie hilfreich, das Publikum im ersten Drittel eines Auftritts davonzujagen & erst später die Hits zu servieren.

Aber genug der Vorrede, es war auch nicht alles übel. Im Rahmen der Kapitalismuskritik werden Herr Drewermann & ich schon eher Freunde. Doch war laut Titel die Spaltung das Thema. Hier kann es natürlich möglich sein, dass Eugen Drewermann im Laufe der mir fehlenden zwei Drittel der Rede weitere Spaltungen erwähnt hat, aber vielleicht wäre in den ersten 30 Minuten mal ein kleines Zeitfenster zu öffnen möglich gewesen, um zu erwähnen, dass es zur Jahreswende definitiv nicht nur eine Spaltung der Gesellschaft zwischen „geimpften“ & „ungeimpften“ Menschen gibt. Herr Drewermann, wie wäre das gewesen?

& damit sind wir auch mittendrin! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eugen Drewermann alle anderen Spaltungen der Gesellschaft ignoriert, aber es fühlt sich so an. Er führt großflächig Jesus‘ Tabubruch in der Annäherung an die Aussätzigen in der damaligen judäischen Gesellschaft an. So solle wohl die Spaltung gegenüber den geplagten „ungeimpften“ Menschen überwunden werden. Wir Impfis springen über unseren Mehrheitsschatten, lassen unsere böse Entindividualisierung endlich fahren & schließen alle so aussatzgeplagten Ungeimpften in die Arme & alles ist wieder gut.

Ich kann nur hoffen, dass Eugen Drewermann noch die Kurve geschafft hat, diese von mir jetzt so aus dem gesehen Teil zusammengefasste Vision zu entschärfen. Bei Zeusens großer Halbgötterschar, ich hoffe auch, dass Eugen Drewermann klar ist, dass ungeimpfte Menschen durch ihre erhöhte Infektionsgefahr eben auch ein erhöhtes Risiko für ihre Mitmenschen darstellen & dabei ganz besonders, Eugen Drewermann bitte hier aufpassen, für Menschen, die an Vorerkrankungen leiden, zum Beispiel chronisch kranke Menschen. Als ein spezifischeres Beispiel: Menschen, die an multipler Sklerose leiden. Oder: Menschen, die an Nierenversagen leiden. Noch eins? Oder reicht das? Wäre es nicht ein unglaublicher Jesus-Tabubruch gegenüber unserer eigentlich doch so christlichen, abendländischen Kultur, wenn wir mal zur Abwechslung diesen Menschen gegenüber uns zugängig zeigten? Herr Drewermann?

Ich habe tatsächlich ein Verständnisproblem, warum die Ungeimpften so umworben werden, dass um sie herum eine Spaltung herbeifabuliert wird, wenn es sich doch einfach nur um ein Verhalten handelt, dass vor allem zeigt, dass die Gesellschaft diesen Menschen nichts wert ist. Ich rede explizit nicht von Menschen, die aus Vorerkrankungsgründen keine Impfung (weder gegen Covid-19, noch gegen andere Krankheiten) empfangen können. Beispielhaft könnte ich wieder Menschen mit Nierenversagen erwähnen. Diesen Menschen mit urchristlicher Nächstenliebe entgegenzutreten wäre eine viel größere Leistung, als den verstockten Besserwissern die Hand zu reichen. Denn, Herr Drewermann, es läuft seit vielen, vielen Menschenaltern eine Spaltung durch die Gesellschaften: die Spaltung zwischen kranken Menschen & gesunden. Zwischen behinderten & nicht-behinderten Menschen. Ihr gerne als Beispiel herangezogene Herr Jesus hat in der Überlieferung auch immer wieder hier an den richtigen Stellschrauben gedreht. Warum erwähnen Sie das nicht auch in dem Sinne? Warum stellen Sie die ungeimpften Zeitgenossen auf die Stufe der biblischen „Aussätzigen“, wenn es wahrhaftige „Aussätzige“ in unserer heutigen Gesellschaft gibt? Ja, wir sprechen gerne vom Gesundheitswesen, weil es gefälliger klingt, aber an allen Ecken & Enden knirscht es in diesem Wesen & Sie wollen den wohlstandsverwahrlosten Ungeimpften, die dieses eigentlich als sozial aufgebautes Gesundheitswesen willentlich in Gefahr bringen, noch die Hand reichen?

(tiefes, entnervtes, enttäuschtes Ausatmen der schreibenden Person)

Herr Drewermann, die Spaltung muss noch viel tiefer werden!

Ja, ich könnte jetzt einfach mal wünschen, dass die Spaltung so tief würde, dass kein ungeimpfter Mensch mehr Hilfe durch das Gesundheitswesen erhalten würde. Das wäre ungerecht, meinen Sie? Ja, absolut. Aber wissen Sie auch, wie viel Vorleistung manche Menschen selbst erbringen müssen, bevor sie als würdig empfunden werden, auch eine Leistung des sozialen Gesundheitswesens zu erhalten? Ach, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Isabelle Hansen. Ich bin eine trans Frau. & wenn wir das Thema direkt mal ein wenig vertiefen wollen… ich bin genderfluid. Für Menschen, wie Sie, Herr Drewermann, mache ich es – wenn auch mit einem eingefrorenen Lächeln im Gesicht – einfach & bin eine trans Frau. In der LGBTQIA*-Community hüpfe ich dann in den nicht binären Sektor, weil ich mich auch nicht zu 100% Frau sehe, jedoch zu 0% als cis Mann. Oh je, jetzt wird es haarig mit den Verständigungen, Herr Drewermann, & sehen Sie, so haarig verhalten sich dann auch die Träger des erwähnten Gesundheitswesens & dort dürfte ich mich – wenn ich irgendwann eine sogenannte „geschlechtsangleichende Operation“ bezahlt bekomme, damit dieses zu 100% Dysphorie auslösende Organ umgearbeitet wird – nie als nicht binär bezeichnen, denn damit würde ich direkte Zweifel an der Dysphorie, an der ich seit Jahrzehnten leide (Herr Drewermann zum Verständnis: LEIDE!), sähen. Erwähnte ich oben Ungerechtigkeit? Tja.

Ihr Thema für die Neujahrsansprache war Spaltung. Das haben Sie sehr gut hinbekommen.

Doch habe ich noch nicht Ihren Trumpf erwähnt. In dem Moment fror auf dieser Seite des Bildschirms mein Gesicht ein. Sie sprachen über die Apartheid in Südafrika & wie wir versöhnungshalber von der dortigen Geschichte lernen könnten.

Dabei sprachen Sie das N-Wort.

Es existieren Alternativen. Und wenn Sie davon ausgehen sollten, dass Ihre Zuhörerschaft diese Alternativen nicht kennt, dann haben Sie die Möglichkeit, diese zu erklären. Sie sind doch ein gebildeter, weltgewandter Mann, oder? Oder haben Sie noch nie von BIPoc gehört? BIPoc ist die Abkürzung für „Black, Indigenious and People Of Colour”. Aber bitte nicht das N-Wort. & vor allem nicht dieser Heinrich-Lübke-hafte Paternalismus, der in Ihren Worten mitschwingt… auch wenn es mich als weiße Person nicht betrifft, ich finde es zum kotzen.               

Verstehen Sie eigentlich, welchen Schmerz die Verwendung dieses Wortes hervorruft? Ich vermute, Sie haben sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Sie haben damit auf jeden Fall Menschen die Tür gezeigt, sie ausgeladen, ihnen kein gutes, neues Jahr gewünscht.

Worüber Sie sich auch keine Gedanken gemacht haben, denn sonst wären Sie dort nicht für Ihre Neujahrsansprache aufgetreten: die Geschichte des Vereins „Gesellschaft für Gesundheitsberatung GGB e.V.“ & deren Gründer, ein Max Otto Bruker, der nicht nur ein Mitglied der SA während des Dritten Reiches war, sondern auch später sich in seiner mannigfaltigen politischen Beschäftigung, gerne in rechten Traditionen einsortierte, so dass ihn Jutta Ditfurth 1994 als „Nahtstelle zwischen Ökologiebewegung und Neonazis“ bezeichnete. Diese Bezeichnung ist gerichtlich geprüft & für gut befunden.

Was bleibt hiervon? Ich habe schon oft in meinem Leben 30 Minuten verschenkt, aber selten geschah es mit so viel Frust & Wut & Enttäuschung, die noch lange nachwirkten.

Kein Dank, Herr Drewermann.